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Fokus Stadt und Land

Tim Krohn: Lebt es sich auf dem Land freier?

von Tim Krohn, Schriftsteller
min
19.10.2024
Lebt es sich auf dem Land freier? Das ist eine Frage mit mehreren Fallstricken. Freier als wo? Freier wovon? Freier wozu? Und ist die Freiheit überhaupt die wesentliche Grösse, wenn wer aufs Land zieht? Ein Beitrag von Schriftsteller Tim Krohn zum Fokusthema Stadt und Land.

Wir leben nun seit zehn Jahren in Santa Maria Val Müstair. Das Dorf zählt knapp 300 Seelen, das gesamte Tal 1400. Unser Kantonshauptort Chur liegt, so der Pass offen ist, gut zwei Stunden entfernt. Viel näher liegt Meran, die italienische Grenze ist nur fünf Minuten von uns entfernt. Aber sowohl Chur als auch Meran sehen uns nie. Wir haben vier kleine Kinder, und ausser zu Verwandtenbesuchen oder alle Jubeljahre einer Fahrt ans Meer bringen uns hier keine zehn Pferde weg.

Denn ja, die Kinder geniessen hier eine enorme Freiheit. Nicht vor der Haustür, dort nämlich verläuft die Kantonsstrasse. Seit einigen Jahren tobt halb Europa durch unser Tal, ganze Porsche-Korsos, Trupps alter Säcke auf schweren Motorrädern, klotzige Wohnmobile, deren Fahrer:innen angesichts der engen, nur einspurig befahrbaren Gasse der Schweiss aus allen Poren strömt. Und immer mehr Vierzigtönner. Aber diese Strasse ist für unser Wohlbefinden nur ein Kratzer in einem sonst fast makellosen Körper. Denn hinten raus liegen unsere Gärten – ein Obsthain mit Äpfeln, Aprikosen, Birnen, Mirabellen, Zwetschgen sowie ein kleiner Gemüse- und Beerengarten mit einem Rhabarberstrauch, so wild und unerschöpflich wie ein Urwald –, abermals dahinter das weite Tal mit seinem Bächlein und seinen Feldern und zuletzt die Berge, Hort einer schier unfassbar belebten Natur. Und talauswärts, gen Italien, spannt sich der weite, zarte Himmel Mittel- und Südeuropas. Oh ja, wir leben jenseits der Wasserscheide und sind schon ein ganz klein bisschen mediterran. Oder bilden es uns zumindest ein.

Wer hier aufwächst, lernt gleichzeitig laufen und reiten, stromert durch Ställe und tigert durch die Wälder. Manche Einheimische rennen vor dem Frühstück noch auf ein kurzes Bad hoch zum eiskalten Lai da Rims oder winters auf die Piste von Minschuns, unserem verträumten, stets halb verlassenen Skigebiet, das noch ganz unverfälscht den spröden Charme der Siebziger versprüht. Das alles klingt ausgesprochen nach Freiheit, und unsere Kinder schwören denn auch immer wieder Stein und Bein, nie, nie, nie von hier wegziehen zu wollen.

Dennoch ist es immer wieder Thema. Etwa in Sachen Schule. Eine Waldorfschule wäre nur wenige Kilometer entfernt, doch jenseits der Landesgrenze, und ein Schulbesuch im Ausland ist gesetzlich nicht vorgesehen. Die Lehrkräfte unserer traditionell ausgerichteten Dorfschule geben zwar ihr Bestes, um das tief verankerte Mobbing in den Griff zu kriegen, gelingen will es bisher nicht. Das wiegt den Reiz von Kleinklassen mit vier bis zwölf Kindern wieder auf. Und wohin auf der Oberstufe, wenn nicht in ein Internat?

Dazu zeigen unsere Kinder allerlei Begabungen, deren Förderung nur in der Stadt zu haben wäre. Lange haben wir uns eingeredet, es müsse ja nicht jeder Floh gefördert werden. Allerdings haben wir die Energie und die Leidenschaft der Kinder unterschätzt und sind uns da nicht mehr so sicher.

Auch für meine Frau und mich ist das Leben in der hintersten Pampa ein zweischneidiges Schwert. Wir schreiben beide hauptberuflich Romane, und für den Akt des Schreibens selbst wüsste ich keinen besseren Ort. Fern von der Eitelkeit und den Eifersüchteleien des städtischen Kulturbetriebs, fern des urbanen Gehetzes und der grellen Kapitalismusmaschinerie. Doch der Kulturbetrieb pfeift seit Corona nicht nur aus dem letzten Loch, er ist auch denkbar simpel gestrickt. Wer nicht in der Metropole lebt, dessen Werk gilt schon mal per se als provinziell und darf ignoriert werden. Man erwartet, dass wir für ein ermässigtes Honorar auftreten («Ihr lebt ja auf dem Land sicher viel billiger»), und die Tatsache, dass wir nicht so eben für ein Stündchen zur Veranstaltung nach Baden oder Luzern reisen können, sondern acht Stunden Fahrt und ein Hotelzimmer verrechnen müssen, sorgt immer wieder dafür, dass eine Einladung mit Bedauern wieder zurückgezogen wird.

Ja, das liebe Geld! Hätten wir es, so wie wir es in unserer Zürcher Zeit hatten, wären wir eben doch auch nochmal ein ganzes Stück freier. Andersrum: In Zürich mit vier Kindern und zwei zunehmend pflegebedürftigen Grosseltern, wie sollte das in der Stadt gehen? Findet nur mal schon eine so grosse Wohnung!

Alles in allem kann ich nicht sagen, wir leben freier. Anders eben. Oft bezaubernd anders. Manchmal sind wir auch kurz verzweifelt. Aber wer wäre das nicht?

 

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