Tobias erlebt ein Abenteuer
Es war einmal vor langer Zeit … So fangen die meisten Geschichten an und fast immer erzählen sie von schlafenden Prinzessinnen. Langweilig, oder? Haben wir schon tausendmal gehört! Wie wäre es stattdessen mit einer Geschichte über einen riesigen Fisch?
Auch diese Geschichte spielt vor einer langen Zeit, nämlich vor über zweitausend Jahren in einer Stadt namens Ninive. Ninive war von riesigen, starken Mauern umgeben, auf denen Pferderennen stattfanden. In der ganzen Stadt war das geschäftige Geplapper der Menschen auf den Märkten zu hören, während Pferde wieherten und Kühe muhten. Da waren prachtvolle Tempel, üppige Gärten mit Springbrunnen und sogar ein prunkvoller Palast mit Statuen von geflügelten Stieren und Löwen.
Doch nur ein paar Strassen vom Stadtzentrum entfernt lag das echte Ninive. Schmale, staubige Strassen und einfache Lehmhäuser. Die meisten Menschen in Ninive waren nämlich sehr arm.
Der Held in unserer Geschichte heisst Tobias. Auch er und sein Vater Tobit lebten in einer Hütte aus Lehmziegeln. Dabei waren sie nicht immer so arm gewesen. Früher verkaufte Tobit seine Waren auf dem Markt und verdiente dabei viel Geld. Aber eines Tages passierte ein grosses Unglück. Ein Vogel flog über seinen Kopf und liess einen grossen, stinkenden Haufen fallen! Direkt auf Tobits Gesicht!
IGITT!, werdet ihr jetzt denken und vielleicht ein bisschen lachen, weil das eurem Papa auch schonmal passiert ist. Aber Tobit lachte nicht, denn die K...., nun, was auch immer der Vogel da abgeworfen hatte, landete ausgerechnet in seinen Augen. Die entzündeten sich und der arme Tobit wurde blind.
Noemi Harnickell ist freie Journalistin und Redaktorin beim Kirchenboten. Ihr jüngstes Buch «Verstörend betörend – im Bann der Orchidee» widmet sich dieser Blume. www.noemiharnickell.com
Für blinde Menschen war es vor zweitausend Jahren sehr schwierig, Arbeit zu finden. Um Essen für sich und Tobias kaufen zu können, musste Tobit auf der Strasse betteln. Manchmal mussten sie sogar hungrig ins Bett – und ihr wisst bestimmt, wie schlecht man einschläft, wenn einem der Magen knurrt!
So konnte es natürlich nicht weitergehen. Und eines Tages kam Tobit eine gute Idee: Hatte er nicht vor vielen Jahren einem Verwandten aus der Stadt Medien Geld geliehen? Dieser Verwandte hatte ihm das Geld nie zurückbezahlt! Wenn er nur nach Medien reisen könnte, um das Geld zurückzuholen… Ja, dann müssten er und Tobias nie wieder hungrig sein.
Aber noch während er darüber nachdachte, sank ihm das Herz in die Hose. Medien war fast fünfhundert Kilometer von Ninive entfernt, die Reise würde mindestens zwei Wochen dauern und unterwegs lauerten Räuber. Und was würde erst aus Tobias, wenn er nicht zurückkehrte?
«Ich werde gehen», sagte Tobias entschlossen zu seinem Vater, als er von dem Dilemma hörte. Tobit schüttelte heftig den Kopf. «Das ist zu gefährlich, du bist noch so jung!»
«Aber wenn ich nicht gehe, verhungern wir!», rief Tobias verzweifelt. «Ist es nicht besser, es wenigstens zu versuchen?» Und bevor Tobit etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: «Ashur wird mich begleiten. Du hast doch immer gesagt, dass er ein guter Beschützer ist!»
Tobit spürte, wie Ashur, der auf dem Boden zwischen ihren Füssen lag, bei der Erwähnung seines Namens neugierig mit dem Schwanz wedelte. Ashurs struppiges, schwarzes Fell war von sanften grauen Strähnen durchzogen, aber darunter zeichneten sich noch immer die Muskeln von einst ab.
Tobit seufzte und streichelte dem Hund über die gespitzten Ohren. «Dass du ihn mir ja zurückbringst», murmelte er. Dann lächelte er Tobias traurig an und nickte. «In Ordnung», sagte er. «Geht. Ich werde dafür beten, dass ihr eine sichere Reise habt.»
So machten sich Tobias und Ashur auf den Weg, ein kleines Bündel Trockenfleisch und hartes Brot im Gepäck. Tobias sang während dem Laufen und Ashur war glücklich, denn er hatte einen riesigen Stock gefunden, den ihm Tobias warf.
Sie waren erst wenige Stunden gewandert, als sie auf einen jungen Mann stiessen. Er war nicht viel älter als Tobias (und Tobias war nicht viel älter, als ihr es seid!) und picknickte auf einem umgefallenen Baumstamm am Wegrand. Vielleicht wären die beiden gar nicht ins Gespräch gekommen, hätte Ashur dem Fremden nicht sofort seinen Stock vor die Füsse gelegt und ihn freudig winselnd aufgefordert, ihn zu werfen.
«Was für ein süsser Hund!», rief der Fremde Tobias zu. «Ist das deiner?» Tobias nickte skeptisch. Er mochte es nicht, wenn andere Leute mit Ashur spielten. «Wir sind leider in grosser Eile», sagte er, bevor der Fremde den Stock ein zweites Mal werfen konnte. «Wir haben keine Zeit zum Spielen. Komm Ashur!»
Er ging weiter, aber der Fremde liess sich nicht abschütteln, sondern lief ihnen hinterher. «Ich bin Rafael», stellte er sich vor. «Wo geht ihr hin?» Tobias verdrehte die Augen. «Nach Medien.»
«Wirklich?» Rafael lachte. «Da muss ich auch hin! Ist ja toll, ich dachte schon, die Reise würde saaaaau-langweilig. Und jetzt habe ich gleich zwei Gefährten gefunden. Das nenne ich mal Glück!» Tobias seufzte. Den würde er so schnell nicht mehr los. Wäre er doch nur einen Tag früher losgezogen!
Je weiter der Tag voranschritt, desto heisser wurde auch die Sonne. Erschöpft und verschwitzt setzte sich das Trio an einem Flussufer hin und badete die Füsse im kühlen Wasser. Ashur schwamm zwischen den Ufern hin und her, dann schüttelte er sein Fell direkt neben Rafael aus, bis der ganz nass war. Tobias musste laut lachen. «Entschuldige», sagte er, musste jedoch gleich wieder losprusten, als er Rafaels konsternierten Blick sah.
Dann, auf einmal, ein Jaulen.
«Ashur!»
Aber der Hund war verschwunden.
«Ashur!», rief Tobias nochmal. Verzweiflung kochte in ihm hoch, das Herz schlug ihm bis zum Hals.
WATSCH!
Eine Flosse hatte ihn an der Schulter getroffen und plötzlich lag Tobias selbst im Wasser. Ein riesiger Fisch hatte Ashur zwischen seinen Zähnen!
Tobias stürzte sich auf ihn, schrie und versuchte, den Mund des Fischs aufzureissen, doch es half alles nichts. Ashur winselte und Tobias wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor er selbst zu Fischfutter würde. Dann hörte er Rafaels Stimme: «Pack ihn! Tobias, pack den Fisch! Pack ihn!»
Tobias sammelte seine ganze Kraft, packte den Fisch und warf ihn ans Ufer. In seinem Schrecken vergass der Fisch, Ashur festzuhalten und spuckte ihn aus. Tobias griff nach einem Stein und schlug so lange auf das Ungetüm ein, bis es sich nicht mehr regte. Erst dann liess er sich auf den Boden fallen und weinte.
Ashur stürzte sich auf ihn und leckte ihm über das ganze Gesicht, bis Tobias seine Arme um ihn schlang. «Fast hätte ich dich verloren!», schluchzte er. «Ach, Ashur! Was würde ich ohne dich nur tun?»
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und drückte sie sanft. «Wenn ich du wäre», sagte Rafael, «würde ich die Eingeweide von dem Fisch mitnehmen. Man sagt, die könnten alle Wunden heilen.» Tobias rümpfte die Nase. Er hatte Fisch noch nie gemocht und beim Geruch wurde ihm ganz übel. Aber er wickelte das Herz, die Leber und die Galle in ein Tuch und legte sie ganz unten in seinen Rucksack.
Von diesem Tag an waren Rafael, Tobias und Ashur beste Freunde. Nach zweieinhalb Wochen kamen sie in Medien an und wurden von Tobias Verwandten mit offenen Armen empfangen. Sie hatten das Geld schon so lange zurückzahlen wollen, aber die lange Reise nach Ninive hatte sie immer abgeschreckt. Wie froh waren sie erst, Tobias wohlbehalten bei sich empfangen zu dürfen!
Wir könnten ein ganzes Buch darüber schreiben, was Tobias und Rafael in Medien und auf der Heimreise sonst noch erlebten. Da gäbe es zum Beispiel noch die Geschichte mit Sara, in die sich Tobias unsterblich verliebte, die aber leider von einem bösen Dämon besessen war. Wie jeder mutige Held im Märchen rettete Tobias sie natürlich und heiratete sie schliesslich. Aber das ist eine andere Geschichte und die werden wir ein anderes Mal hören.
Ihr wollt sicher wissen, was aus Tobit geworden ist? Nun: Erinnert ihr euch an die stinkenden Fischinnereien, die Tobias wochenlang in seinem Rucksack mit sich herumtrug? Als er zu Hause ankam, rieb er die Galle auf Tobits Augen. Das fand der zwar erst ein bisschen eklig (ich glaube, seine exakten Worte waren: «Iiih! Das stinkt aber!») – aber dann, wie durch ein Wunder, konnte er auf einmal wieder sehen! Er umarmte seinen Sohn und Rafael und sogar Ashur, obwohl der noch immer etwas nach Fisch stank.
Rafael blieb noch viele Tage bei Tobit und Tobias. Er half ihnen, als sie in ein grösseres Haus zogen und Tobit wieder seine Waren auf dem Markt verkaufen konnte. Er spielte mit Ashur auf den Feldern vor der Stadt und schaute sich mit Tobias die Pferderennen auf der Stadtmauer an.
Eines Tages ging er weg. Wohin, das wollte er nicht sagen. Aber Tobias war, als würde ihn beim Abschied ein goldener Schimmer umgeben. Und obwohl sie sich nie wieder sahen, konnte Tobias noch viele Jahre später Rafaels Lachen hören, wenn er zu den Wolken hinaufschaute. Tobias und Tobit lebten noch viele Jahre. Nie wieder mussten sie hungrig ins Bett. Und Ashur? Nun, wenn er nicht gestorben ist, dann stinkt er noch heute nach Fisch!
Sommerserie Kindergeschichten
«Mir ist langweilig!» «Wann sind wir endlich da?» «Ich will aber zocken!» «Ich habe mein Buch schon fertig.» Wer kennt es nicht: die ersehnten Sommerferien sind da und damit jede Menge Zeit. Lust auf eine neue Geschichte? In der Sommerserie «Kindergeschichten» geht es um Kinder und Tiere, die füreinander da sind, voneinander lernen und das grosse Glück suchen.
Geschichten für Kinder und Erwachsene zum Lesen, Vorlesen und Erzählen. Ob im Zug, am Strand oder zu Hause auf dem Sofa, wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer!
Erscheinungstermine
Dienstag, 16. Juli: Die kleine Milla und das grosse Glück, von Anna Schindler
Dienstag, 23. Juli: Mara, von Franz Osswald
Dienstag, 30. Juli: Tobias erlebt ein Abenteuer, von Noemi Harnickell
Dienstag, 6. August: Der Schuhschnabel, von Tilmann Zuber
Dienstag, 13. August: Charlie und das Wunder des Lebens, von Swantje Kammerecker
Tobias erlebt ein Abenteuer