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Reise durch die Balkanstaaten

«Und das Glücksgefühl hielt tatsächlich vier Monate lang an»

von Marius Schären/reformiert.info
min
20.08.2024
Lebensgeschichten von Menschen aus Ex-Jugoslawien: Annemarie Morgenegg hat zugehört und sie gesammelt in einem Buch publiziert. Es ist ein Projekt ganz aus dem Bauch heraus.

2019 seien Sie einfach ohne Ziel mit einem alten VW-Bus in Bern losgefahren, heisst es auf Ihrer Website. Wie kam es dazu?

Annemarie Morgenegg: Ich nahm eine Auszeit von vier Monaten von der Theaterarbeit. Und tatsächlich fuhr ich ohne Ziel los. Noch nicht mal VW-Bus-fahren konnte ich. (lacht laut) Doch ich habs einfach gemacht, mit meinem Hund als Begleiter – und verspürte nach wenigen Minuten ein grosses Glücksgefühl. Das klingt vielleicht klischeehaft, aber so war es. Und das Glücksgefühl hielt tatsächlich vier Monate lang an.

Wie wählten Sie dann Ihre Route?

Zuerst fuhr ich ins Tessin und besuchte ich meine Tochter. Da hatte ich schon die erste Panne: Der Bus war undicht, bei Regen rann Wasser rein. Dann fuhr ich durch Norditalien, Venedig – und auf einer Raststätte wurde das Hochfenster von einer Stange durchbohrt. Ich dachte, in Slowenien gebe es viele Garagen und fuhr dorthin – schliesslich musste ich nach Südslowenien, um das Fenster zu flicken.

Und schon waren Sie am Tor zum Balkan.

Ja, das erste Mal, von einem ganz kurzen Besuch vor Längerem in Mazedonien abgesehen. Ich dachte dann, ich fahre nach Kroatien, vielleicht scheint dort die Sonne. Dort wurde mein Hund krank und starb, ich fuhr viel über Landstrassen, kreuz und quer, geriet unter anderem in einen Sturm, wo ich um mein Leben fürchtete, ich hatte einen riesigen Schutzengel! – bis ich irgendwann merkte, dass mein Navigationsgerät auf «kürzeste Strecke» eingestellt war, was mich oft über kleine Strassen führte. Dieses Tempo gefiel mir aber so gut, dass ich es dabei beliess.

 

«Für dich öffne ich meine Schublade»

In diesem 288 Seiten starken Buch erzählt Annemarie Morgenegg aus Bümpliz nach einem Vorwort von Werner van Gent, ehemaliger Korrespondent unter anderem von SRF, 21 Lebensgeschichten von Menschen aus Ex-Jugoslawien nach. Die Männer und Frauen sind zwischen 1942 und 1983 geboren und berichten über leichte und schwere, bunte und dunkle Seiten von der Zeit in Regionen des ehemaligen Balkanstaates, der Flucht oder Reise in die Schweiz und dem Leben hier. In die Schweiz gekommen sind sie zwischen 1980 und 2000. Ergänzt werden die berührenden Erzählungen von einer historische Chronologie und einer Übersichtskarte von Jugoslawien und den Nachfolgestaaten.

Lesungen u.a. am 3. September um 19.30 Uhr in der Dorfkirche Steffisburg.

Weitere Informationen und Termine.

 

Wie ging es dann weiter?

Ich kam nach Bosnien, Albanien, Mazedonien, in den Kosovo. Da meinte ich im Voraus, ich würde vielleicht einen Tag bleiben – dann wurde es eine Woche. Und bei Bosnien dachte ich: Das ist ja nichts Schönes, da kann ich bald wieder weg. Doch dann wurde die Hauptstadt Sarajewo zu einem Kraftort für mich, da fahre ich immer wieder hin.

Was hat sie so gepackt?

Oft wurde ich einfach wie auf Händen getragen. Ich hatte nie Angst – und ich bin nicht ein wahnsinnig mutiger Mensch. Die Gastfreundschaft war unglaublich. Oft wurde ich direkt von der Strasse weg eingeladen. Als ich dann im Süden auf die Fähre nach Italien ging, weinte ich. Dieses Glück war jetzt fertig. Und ich bin zuhause in Bümpliz durchaus nicht unglücklich! Durch Italien fuhr ich schliesslich zusammen mit meinem Mann wieder in den Norden, auf Autobahnen. Doch insgesamt war meine Durchschnittsgeschwindigkeit inklusive der Rückfahrt bloss 44 Stundenkilometer.

Bis jetzt haben Sie noch gar nichts vom Buch gesagt …

Das kam erst danach. Zurück in Bern ging ich wieder zum Theater arbeiten, aber ich schaffte es einfach nicht mehr – zu viele Leute, die Anforderungen. Ich war 60 und kündete die Stelle. Und eines Nachts erwachte ich und wusste: Meine Reise ist noch nicht fertig. Ich will ein Buch machen, ob es nun jemanden interessiert oder nicht.

Ich wurde irgendwie geleitet, hatte keinen Plan, es war nichts wohlüberlegt, sondern einfach völlig intuitiv – wie in einer Art Trance.

Warum?

Ich wollte Menschen aus Ex-Jugoslawien, die zwischen 1980 und 2000 in die Schweiz emigrierten, ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Am nächsten Morgen machte ich einen Flyer, um die Menschen zu finden, die erzählen wollten. Diesen streute ich dann möglichst breit: per Internet, in Restaurants, bei Vereinen, bei der Deza.

Was war Ihr Konzept?

Ich hatte keines. Ich wurde irgendwie geleitet, hatte keinen Plan, es war nichts wohlüberlegt, sondern einfach völlig intuitiv – wie in einer Art Trance. Ich sprach in dieser Zeit fast nur von dem, dachte nur an dieses Projekt. Ich las und schaute und hörte die ganze Zeit Hintergrundinformationen, zur Geschichte, Dokumentationen.

Wie wählten Sie die Menschen aus und gingen Sie zu den Begegnungen?

Es war keine Auswahl: Ich traf alle, die sich meldeten. Alle konnten einfach erzählen. Ich bohrte nicht nach, recherchierte nicht vor. Ich ging einfach hin mit meinem Aufnahmegerät und liess sie aus ihrem Leben erzählen, aus ihrer Jugendzeit, wie sie in die Schweiz kamen, wie es ihnen hier erging. Nach den ersten drei merkte ich, dass es ihnen leichter fällt, wenn ich auch selbst etwas von mir erzähle. Ich war völlig erstaunt, mit welchem Vertrauen und welcher Offenheit sie erzählten.

Das gab wohl viel zu redigieren.

Mir machte das Freude. Es kamen etwa 18 bis 20 Seiten pro Person zusammen. Nach 21 Monaten inklusive dem Redigieren hatte ich ein Manuskript. Neun Monate lang suchte ich nach einem Verlag, und dann erhielt ich am selben Tag gleich zwei Angebote. Unterdessen hatte ich schon rund 20 Lesungen.

Wie waren die Reaktionen?

In der ganzen Community hatte viele grosse Freude daran. Sie finden es gut, dass nicht Vorzeige-Integrierte zu Wort kamen, sondern einfach gewöhnliche Menschen aus der Region, die hier ihren Weg gemacht haben. Mit allem, das sie erlebten. Und es tat ihnen gut, dass ich nicht Probleme gesucht habe, sondern sie einfach erzählen liess.

Wie geht es nun weiter fĂĽr Sie?

Die Reise ist auch jetzt noch nicht fertig. Ich habe wirklich mein Herz verloren an diese Landschaften, diese Menschen. Es gab mir so viele wertvolle Bekanntschaften und Freundschaften. Ich mache noch einige Lesungen – aber Buch werde ich keines mehr schreiben. Es wird sicher mein erstes und einziges Buch sein.

Warum?

Als es herauskam, realisierte ich in einem Moment irgendwo auf der Autobahn: Ich habe ein Buch gemacht. Es war wie ein Aufwachen aus einer Trance. Ich fühlte mich wie geführt. Aber worüber sollte ich sonst noch schreiben? Romane gibt es mehr als genug. Und für mich gibt es jetzt anderes, wie zurzeit das Freilufttheaterprojekt zu Carl Albert Loosli, dem «Philosophen von Bümpliz».

 

Annemarie Morgenegg, 65

ie Autorin des Buches ist auf einem Bauernhof in der Nähe von Bern aufgewachsen. Sie absolvierte die damalige Wirtschaftsmittelschule Bern und arbeitete in der Touris- und Reisebranche und in «experimentellen Jobs», wie sie es nennt. Vor der Jahrtausendwende bildete sie sich zur Schauspielerin aus und sammelte diverse Bühnenerfahrungen. Sie arbeitete beim Theater Gurten und war 2010 Mitgründerin des Matte Theaters in Bern. Bis 2019 war sie dort administrative Leiterin und Schauspielerin. Jetzt arbeitet sie frei an unterschiedlichen Projekten.

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