Unter Heiden
Vor ein paar Jahren schrieb der Journalist Tobias Haberl in der «Süddeutschen Zeitung» ein Essay mit dem Titel «Unter Heiden». Er schilderte, wie er heute als gläubiger Katholik zum Exoten wurde, dem Misstrauen und Unverständnis entgegenschlagen. Haberl traf damit einen Nerv. Hunderte dankbare Zuschriften gingen ein, und er wurde zu zahlreichen Talks eingeladen. Mit dem gleichnamigen Buch, das inzwischen in der Liste der «Spiegel»-Bestseller landete, legte Tobias Haberl nach.
Tobias Haberl, Sie sind überzeugter Katholik und gläubig. Ihr Buch mit dem Titel «Unter Heiden» hat Aufsehen erregt. Fühlen Sie sich als Gläubiger diskriminiert?
«Diskriminiert» ist ein grosses Wort, das ich nicht verwenden würde. Wir leben in einer Zeit, in der es fast Mode geworden ist, sich diskriminiert zu fühlen. Da möchte ich mich nicht einreihen. Ich habe das Buch geschrieben, weil ich merke, dass viele in meinem Umfeld es merkwürdig und irritierend finden, heute noch in der Kirche zu sein – vor allem nach den Missbrauchsskandalen. Viele können sich in unserer digitalisierten und technologisierten Welt nicht mehr vorstellen, an Gott zu glauben. In meinem Freundeskreis stehe ich mit meinem Bekenntnis oft allein: Ich glaube an Gott, ich bin in der Kirche und ich bin gern dort.
Unter Heiden, Tobias Haberl, btb Verlag
Warum haben Sie sich als Christ geoutet?
Über die Jahre hat sich da etwas angestaut, und ich wollte erklären, woran ich glaube, warum ich glaube und warum ich eine lebendige Beziehung zu Gott für eine schöne, richtige und wahrhaftige Sache halte. Denn ich erlebe, dass Kirche und Glaube oft auf Schlagworte reduziert und dann abgetan werden. Viele wissen gar nicht mehr, was es bedeutet, ein christliches Leben zu führen.
Woran liegt diese Entwicklung?
Viele denken zuerst an die verheerenden Missbrauchsskandale, die tatsächlich eine Austrittswelle ausgelöst haben. Das ist aber nur ein Brandbeschleuniger für etwas, was seit 200 Jahren schwelt. Die Erosion des Glaubens ist in der westlichen Welt kein neues Phänomen. In Afrika und Asien sieht es ganz anders aus. Ich erkläre mir das so: Je mehr wir über die Welt wissen und je weiter die Naturwissenschaften voranschreiten, desto schwerer fällt es, das Unglaubliche zu glauben – etwa, dass es einen Gott gibt, der seinen Sohn auf die Welt geschickt hat, um uns von unseren Sünden zu erlösen.
Ja, für viele ist diese Vorstellung schlichtweg unverständlich.
Richtig, das klingt für viele wie Wahnsinn. Wir meinen, alles über die Welt zu wissen, sie durchschaut und erforscht zu haben. Für mich war es nie ein Problem, vernünftig zu denken und gleichzeitig an eine unsichtbare, nicht berechenbare Welt zu glauben. Ehrlich gesagt liegt darin das Abenteuer: sich auf einen Weg einzulassen, von dem man nicht weiss, wohin er einen führt und wie er einen verändert.
Ich glaube, dass sich alle Menschen nach denselben Dingen sehnen: Geborgenheit, Halt, Orientierung, Liebe, Gerechtigkeit.
Nichtchristen glauben ja auch nicht nur rational – von Horoskopen bis Jedi-Glauben ist alles möglich. Sind die angeblich Toleranten nicht oft gegenüber den Kirchen intolerant?
Das erlebe ich tatsächlich, ohne pauschalisieren zu wollen. Gerade Menschen und Milieus, die sich viel auf ihre Toleranz zugutehalten und in anderen Zusammenhängen differenziert argumentieren, wischen die Kirche oft mit ein paar Schlagworten weg: Missbrauch, Vertuschung, aus der Zeit gefallen, Bremsklotz für Freiheit und Fortschritt. Der Schriftsteller Chesterton sagte einmal: «Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern an alles Mögliche.» Das sieht man heute. Viele suchen sich etwas, was zu ihrem Leben passt, aber möglichst wenig Pflichten und Auflagen mit sich bringt. Ich glaube, dass sich alle Menschen nach denselben Dingen sehnen: Geborgenheit, Halt, Orientierung, Liebe, Gerechtigkeit. Ich finde das im Christentum und in meinem Glauben. Andere suchen es an anderen Orten. Ich wünsche ihnen von Herzen alles Gute, aber befürchte, viele suchen an den falschen Stellen.
Heute dreht sich vieles um Konsum, Selbstoptimierung und das eigene Ich. Bietet das Christentum eine Gegenwelt?
Für mich ja. Der Glaube fordert, über das eigene Leben nachzudenken: über Schuld, Moral, darüber, ob man ein guter Mensch ist. Glauben heisst aber vor allem, vom Ego wegzugehen – hin zu Gott, auch hin zu anderen Menschen. Die Nächstenliebe, die sogar die Feindesliebe einschliesst, ist die bahnbrechende Idee des Christentums. In sozialen Netzwerken findet man das kaum. Dort kämpfen Gruppen gegeneinander, solidarisch nur mit Gleichgesinnten. Das Christentum geht da weiter. Und könnte gerade heute, wo die Gesellschaft immer weiter zersplittert, eine verbindende Kraft sein.
Ist der Glaube auch ein Gegenmittel gegen die hektische Welt?
Ja. Der Theologe Metz sagte: «Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung.» Das nehme ich ernst. Der Alltag wird immer schneller und komplizierter, und das Gebet oder eine Messe unterbrechen ihn, um an das Wesentliche zu erinnern. Sie holen mich aus meinen Gedanken, aus meinem Zorn, aus meiner Eitelkeit und führen mich in eine andere Dimension. Das gibt mir Kraft, ins normale Leben zurückzukehren.
Ihr Buch ist ein Plädoyer, sich ohne Vorurteile auf das Christentum einzulassen. Was bringt das?
Es ist eine Einladung, es mit Gott zu versuchen und dem Christentum so differenziert zu begegnen wie anderen gesellschaftlichen Fragen. Natürlich darf man die Fehler der Kirche nicht unter den Tisch kehren. Aber es gibt auch eine andere, eine strahlende Seite: Millionen Menschen, Kleriker wie Laien, die durch ihren Glauben Gutes in die Welt tragen. Abgesehen davon glaube ich nun mal, dass es Gott gibt. Das ist der eigentliche Grund für meinen Glauben.
Wenn mehr Menschen versuchen würden wie Jesus Christus zu leben, wäre die Welt auf Knopfdruck liebevoller, gütiger, friedlicher.
Was gibt der Glaube Ihnen persönlich?
Mein Leben sortiert sich. Ich fühle mich auf einem Weg, der sich richtig und wahrhaftig anfühlt – in einer Zeit voller Orientierungslosigkeit und Angst. Der Glaube gibt mir Halt. Ich fühle mich geliebt und erkannt, ohne mich ständig im Internet äussern zu müssen. Mein Leben hat einen Sockel und ein Dach, einen Sinn und ein Ziel: das ewige Leben bei Gott. Diese Hoffnung ist ein grosser Trost. Natürlich gibt es auch in meinem Leben Angst und Tragödien, aber ohne geht es nicht. Dabei vertraue ich darauf, dass Gott sein Versprechen einlöst, dass er mich liebt und wachsen lässt und im Tod erlöst.
Kann der Glaube die Gesellschaft verbessern?
Aber natürlich. Wenn mehr Menschen versuchen würden wie Jesus Christus zu leben, wäre die Welt auf Knopfdruck liebevoller, gütiger, friedlicher. Natürlich gelingt das nicht immer, aber es immer wieder zu versuchen, darin liegt eine grosse Kraft. Die Kirche mag auf den ersten Blick mittelalterlich wirken mit ihren vielen Geboten. Doch ich finde es wichtig, dass es eine Instanz gibt, die unzeitgemäss ist und den technologischen Fortschritt hinterfragt. Nicht alles Neue ist gut, nicht alles Alte war schlecht. Paulus sagte: «Prüfet alles und behaltet das Gute!» Die Kirche mahnt zur Demut, etwa bei der Gentechnik. Sie warnt davor, den Menschen zur Ware, zum Produkt zu machen. Dafür schätze ich sie.
Schränkt der Glaube nicht die persönliche Freiheit ein?
Ja, ein gläubiges Leben bedeutet, nicht immer nur das zu tun, worauf man gerade Lust hat. Aber Freiheit ist nicht, immer nur den eigenen Impulsen zu folgen. Es geht um eine andere, tiefere Freiheit, und die schenkt mir mein Glaube, indem er mich stärker und unabhängiger von den Zwängen und den Täuschungen des Alltags macht. Zu durchschauen, was einem nur vermeintlich und was einem wirklich guttut, ist eine grandiose Erfahrung, die sich aber nur einstellt, wenn man sich auf Gott einlässt.
Heute hat die Kirche ein Imageproblem. Was sollten die Kirchen tun, um wieder Gehör zu finden?
Sie müssen den Missbrauchsskandal seriös aufarbeiten, um Vergebung bitten und demütig sein. Das Vertrauen ist schwer beschädigt. Gleichzeitig sollte die Kirche unzeitgemäss bleiben, aber zeitgemäss kommunizieren. Sie muss die Menschen mit ihren Ängsten und ihren Problemen abholen, ohne all ihre Dogmen über Bord zu werfen. Natürlich kann man über die eine oder andere Veränderung diskutieren, aber in aller Ruhe und ohne sich vom Zeitgeist unter Druck setzen zu lassen. Meditation, Stille, Halt, Liebe, Hoffnung – all das gibt es seit 2000 Jahren im Christentum, und die Menschen sehnen sich danach. Die Kirche muss es nur wieder sichtbar machen.
Zuletzt: Tobias Haberl, warum lohnt es sich, am Sonntag in die Kirche zu gehen?
Manchmal denke ich: Es ist doch egal, ob ich gehe. Aber dann erinnere ich mich an Jesus und seine Passion. Ich will ihn nicht im Stich lassen, sondern ein Stück mit ihm gehen. Auch wenn ich keine Lust habe, gehe ich – und habe es nie bereut. Die Messe verändert mich, erinnert mich an das Wesentliche und schenkt mir eine Ahnung vom Himmelreich. Das ist es wert.
Unter Heiden