Vereint in Schmerz, Trauer und Wut
Vergangene Woche feierten die jüdischen Gemeinden Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest. Damit begannen auch die «zehn Tage der Umkehr» bis zu Jom Kippur, dem Versöhnungsfest. In dieser nachdenklichen und besinnlichen Zeit jährt sich dieses Jahr zum ersten Mal eines der schrecklichsten Ereignisse in der jüdischen Geschichte seit der Shoa: Der brutale Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023.
Dieser gezielte Angriff auf Jüdinnen und Juden hat auch hierzulande tiefe Wunden hinterlassen. Das zeigte sich auch am Vorabend des Jahrestages. Die Jüdische Gemeinde Bern (JGB) beging in Zusammenarbeit mit dem Schweizerisch Israelitischen Gemeindebund (SIG) einen Gedenkanlass für die Opfer des 7. Oktobers.
«Der Anlass soll dazu dienen, sich gegenseitig beizustehen und gemeinsam zu trauern», sagte die JGB-Co-Präsidentin Dalia Schipper in ihren einleitenden Worten vor den über 200 Menschen, die sich in der Berner Synagoge versammelt hatten. Die Trauer, der Schmerz und die Traumata, die der 7. Oktober auslöste, waren an jenem Abend gut spürbar. Doch ebenso die Kraft des gemeinsamen Trauerns.
Tiefe Wunden
Am 7. Oktober 2023 fiel die islamistische Hamas im Süden Israels ein. Die Terroristen griffen mehrere Kibbuzim und ein Musikfestival an, verübten Massaker an der Zivilbevölkerung, übten geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt gegen Frauen aus und nahmen Geiseln. Die Terroristen töteten dabei über 1000 Menschen, verletzten gegen das Fünffache davon und verschleppten 250 Geiseln nach Gaza.
Die israelische Armee antwortete am Tag darauf mit massiver militärischer Gewalt in Gaza, und die schiitische Hisbollah-Miliz begann ihrerseits, Ziele im Norden Israels mit Raketen zu beschiessen. Seither befindet sich das Land im Kriegszustand, ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht. Die Kampfhandlungen in Gaza und seit Kurzem auch im Libanon haben zehntausende Menschenleben gefordert.
Die gezielten Angriffe auf jüdische Leben und die darauffolgenden Ereignisse haben Jüdinnen und Juden weltweit zutiefst verunsichert. Sei es die Angst um Angehörige, die plötzliche Verwundbarkeit im als Schutzraum verstandenen Israel oder der zunehmende Antisemitismus weltweit: Für viele Jüdinnen und Juden ist seit dem 7. Oktober 2023 nichts mehr wie zuvor.
Trauer, Schmerz, Wut und Angst gehören nun zum Alltag.
So verbindend die Gefühle von Schmerz, Trauer und Wut sind, so unterschiedlich sind die Wege, damit umzugehen. Auch das zeigte der Gedenkanlass in der Berner Synagoge. JGB-Co-Präsidentin Dalia Schipper beschwor den Dialog und «die Energie des achtsamen Miteinanders, des aufrichtigen und ehrlichen Zuhörens». Die Tage der Umkehr wolle sie auch dazu nutzen, über das eigene Verhalten nachzudenken. «Für einen offenen Dialog braucht es eine ideologische Abrüstung», ist Schipper überzeugt.
Weniger versöhnlich klangen die Worte der israelischen Botschafterin Ifat Reshef. «Wir befinden uns in einer Zeit der Prüfung», sagte sie in ihrer Rede, «in der wir uns entscheiden müssen, ob wir für das Gute oder das Schlechte einstehen wollen.» Sie kritisierte all jene, die das Selbstverteidigungsrecht Israels ignorieren würden. Dennoch, so schloss sie, solle es an diesem Abend um jene gehen, die verschollen sind, die getötet oder verschleppt wurden.
Antisemitismus nimmt zu
Der Präsident des SIG, Ralph Friedländer, wies ausserdem auf den zunehmenden Antisemitismus hin. Auch in der Schweiz müssten sich Jüdinnen und Juden für einen Krieg verantworten, mit dem sie nichts zu tun hätten, oder würden tätlich angegriffen. «Selbst unsere Kinder müssen sich in der Schule oder der Universität für das Kriegsgeschehen rechtfertigen.» Friedländer machte unter anderem die Darstellung Israels in den Medien für den sich verbreitenden Antisemitismus verantwortlich.
Als Vertreter des Bundesrates sprach Staatssekretär Alexandre Fasel. Auch er wies auf den weltweit ansteigenden Antisemitismus hin: «Der Antisemitismus nimmt immer dann besonders zu, wenn die Gewalt im Nahen Osten aufflammt.» Der Bundesrat sei zutiefst besorgt über diese Entwicklung. Die Schweiz setze sich deshalb weiterhin für die Unterstützung einer friedlichen Lösung ein – diese könne nur eine politische Lösung in Form von zwei Staaten zustande kommen.
Erinnerung darf nicht verblassen
Am stärksten zu spüren war der Schmerz während des Redebeitrags von Jardena Puder. Sie ist eine Angehörige der von der Hamas verschleppten Romi, die Puder als «23-jährige, feministische Pazifistin» beschrieb. Neben ihrem Schmerz und ihrer Angst brachte Puder auch Wut zum Ausdruck. Wut über die fehlende Anerkennung der Traumata und Israels als Opfer. Gerade auch in feministischen Kontexten vermisse sie diese Anerkennung.
Damit sprach Jardena Puder einen weiteren Punkt an, der den Anlass so wichtig machte. Denn wer Trauer und Schmerz verarbeite, wolle in diesen Gefühlen ernst genommen werden. Deshalb sei gemeinsames und auch öffentliches Trauern so wichtig.
Je länger der Krieg dauert, umso mehr drohen die Opfer des 7. Oktobers in den Hintergrund zu geraten. «Mit all den Bildern, die uns täglich erreichen, verblassen die Erinnerungen an die Schrecken des 7. Oktobers im Gedächtnis», sagte Jehoshua Ahrens, Rabbiner der jüdischen Gemeinde Berns, zum Schluss. Doch das sei etwas, das niemals geschehen dürfe.
Vereint in Schmerz, Trauer und Wut