Vieles beginnt mit einem Traum
Vieles beginnt mit einem Traum. Im Alten Testament wird Josef, der Lieblingssohn von Jakob und Rahel, von seinen eifersüchtigen Brüdern als Sklave nach Ägypten verkauft. Seine Geschichte findet am hoffnungslosen Tiefpunkt seines Lebens völlig unerwartet eine Wende. Weil er die Träume eines Mitgefangenen deuten kann. Der holt ihn zum von Albträumen geplagten Pharao. Das verändert alles. Josef arbeitet nachhaltig: sieben Jahre Planung und Vorräte sammeln – für sieben Jahre der Not muss es reichen. Das sind Spannungsbögen, die wir heute nicht mehr kennen. Sie waren schon damals aussergewöhnlich. Heute kann sich kaum eine Politikerin und kein Arbeitgeber mehr leisten, in so langen Zeiträumen zu denken. Zu gross ist der Druck von kommenden Wahlen oder Aktionärsversammlungen. Wir sind auf schnelle Rendite und Erfolge getrimmt. «Was bringt mir das?», ist die Frage, die gestellt wird. Diese Frage zielt nur auf schnelle Befriedigung meiner gerade aktuellen Bedürfnisse. Medien, auch Social Media, tragen ihren Teil dazu bei, dass die Zyklen der Aufmerksamkeit immer kürzer werden. Skandale und Katastrophen haben eine Halbwertszeit von wenigen Tagen. Dann folgen schon die nächsten noch grösseren.
Vieles beginnt mit einem Traum. Josef versteht Träume im Zusammenhang mit der Zukunft der Menschen und des Landes. Er interpretiert diese Zukunft im Blick auf die Gegenwart. Das hat weitreichende Konsequenzen für Wirtschaft und Politik – und damit für alle.
Josef war nicht nur ein Träumer, er war auch Traumdeuter. Wer sind die Deuter unserer Zeit? Unsere Kirchen mühen sich ab, mit immer weniger Geld gelebtes Evangelium für viele Menschen anzubieten. Manchen engagierten Freiwilligen geht die Luft aus, weil neben den laufenden Aufgaben Konzepte entwickelt werden müssen, wie es weitergehen soll. Die Kirche wird weiterbestehen. Aber wie sie aussehen wird? Da gibt es viele offene Fragen. Und die Welt? Wer sind die Träumer und Traumdeuter heute? In der Wirtschaft? In der Gesellschaft? Die Herausforderungen dieser Zeit sind riesig. Der Mut für grosse Träume ist klein.
Im Neuen Testament träumt ein anderer Josef, der Verlobte Marias. Im Traum sagt ihm ein Engel, er solle die schwangere Maria nicht verlassen. Nach der Geburt träumt er, dass die Familie fl iehen muss. Ausgerechnet nach Ägypten. Dorthin, wo das Volk Israel von Gott aus der Sklaverei befreit worden war. Am zerbrechlichen und bedrohten Flüchtlingskind hängt die Zukunft von Gott. Und der Menschheit. In der Freude der Weihnachtsgeschichte geht dies fast unter. Es muss ein Schock gewesen sein für Maria und Josef. Sie haben rechtzeitig gehandelt.
Ist die Pandemie ein letzter Weckruf, der uns vor Augen führt, wie zerbrechlich und bedroht unsere Welt ist? Jetzt ist die Gelegenheit, unseren Lebensstil anzupassen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Wir müssen investieren. Investieren in Beziehungen. Beziehungen, in denen Vertrauen und Solidarität wachsen, damit nicht jeder und jede nur sich und den eigenen Vorteil sucht. Sonst gehen wir alle unter. Zumindest werden wir einen hohen Preis bezahlen.
Wir müssen die Stimme der Wissenschaft ernst nehmen und unterstützen. Zu Fragen der Gesundheit genauso wie zu den Folgen des Klimawandels. Wir müssen die Friedensstifterinnen und Engagierten für Gerechtigkeit ernst nehmen, nicht den hasserfüllten Trollen und Spaltern Raum geben. Sind wir Traumtänzer, die blind zum Abgrund wanken? Oder bringen uns unsere Träume mit der Hilfe Gottes zum Handeln? Vieles beginnt mit einem Traum.
Martin Dürr, kirchenbote-online.ch
Vieles beginnt mit einem Traum