Vom Umgang der Christen mit bösen und weniger bösen Büchern
Unlängst ist «Mein Kampf» in Deutschland neu aufgelegt worden, erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Und prompt wurde die von Historikern kommentierte Hetzschrift des Diktators Adolf Hitler erneut zum Beststeller: Derzeit befindet sich bereits die dritte Auflage im Handel. Dabei ist kaum ein Buch so verpönt wie dieses, und ein Neudruck war bis Anfang 2016 verboten. Sind das Alte und das Neue Testament die Bibel des Guten, gilt «Mein Kampf» als die Bibel des Bösen.
Sollen böse Bücher zu Aufklärungszwecken dennoch gelesen werden dürfen? Und befinden sich unter den als zersetzend, verwerflich oder gefährlich eingestuften Schriften oft nicht auch Bücher, bei denen es sich um Literatur von Weltrang handelt? So eindeutig wie im Fall von «Mein Kampf» ist die Situation nämlich nicht. Gerade die Kirche hat im Verlauf der Geschichte beharrlich versucht, missliebige Bücher unter dem Deckel zu halten, die zwar in scheinbarem Widerspruch zur kirchlichen Lehre standen, in Wahrheit aber neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder literarische Höhenflüge bargen.
Verbotene Bibel
Die Kirche übte sich schon früh im rigorosen Ausdünnen von Bücherbeständen. Im Jahr 367 hielt der Kirchenvater Athanasius von Alexandria in einem Osterbrief fest, welche Schriften ins Neue Testament gehören und welche nicht; seither hat sich am zweiten Teil der Bibel nichts mehr verändert. Um abweichende Überlieferungen auszumerzen, veranstalteten Kirche und Obrigkeit bereits im 4. Jahrhundert regelrechte Razzien und liessen verbrennen, was mit der offiziellen Lehre nicht im Einklang stand.
Was besonders befremdet: Sogar die Bibel gehörte im Mittelalter zu den Büchern, die man als gewöhnlicher Sterblicher nicht besitzen durfte. Und schon gar nicht Bibelübersetzungen in der Volkssprache. Diese Bibelverbote sollten Laien vor Falschinterpretationen der Heiligen Schrift bewahren. Wenn die Päpste sogar das gedruckte Wort Gottes von den Gläubigen fernhalten wollten, so taten sie es erst recht bei ungezählten weltlichen Autoren. Nach der Reformation führten die Katholiken eine systematische Zensur ein; Bücher, die Rom missfielen, kamen ab dem Jahr 1559 auf den Index Romanus, das kirchliche Verzeichnis der verbotenen Bücher. Wer ein solches Buch besass, sündigte schwer und wurde unter Umständen sogar exkommuniziert.
Unter den verbotenen Autoren befanden sich Honoré de Balzac ebenso wie René Descartes, Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau und, natürlich, die Reformatoren Martin Luther, Huldrych Zwingli und Johannes Calvin. Dass auch Marquis de Sade zu den Geächteten gehörte, lässt sich immerhin nachvollziehen.
Verfemte Klassiker
Erst 1966, nach dem zweiten Vatikanischen Konzil, wurde der katholische Index der verbotenen Bücher schliesslich abgeschafft. Stattdessen sind evangelikal-reformierte Kreise in die Bresche gesprungen. Vor allem in den USA halten selbsternannte Literaturwächter emsig Ausschau nach Unchristlichem, Unsittlichem und Unsauberem. Was ihnen nicht gefällt, soll aus dem Unterricht und den öffentlichen Bibliotheken verbannt werden; dies fordern sie mit offiziellen Anträgen an die Gerichte. Laut einer «Spiegel»-Recherche finden sich auf der Liste der angefochtenen Bücher in den USA Werke von William Shakespeare und Ernest Hemingway ebenso wie Thriller von Stephen King, das Guinnessbuch der Rekorde und sogar der amerikanische Klassiker «Huckleberry Finn» von Mark Twain. Manche Schulleitungen lassen bestimmte Bücher sogar ohne Gerichtsverfügung aus den Regalen nehmen, weil besorgte Eltern dies verlangen.
In der Schweiz ist man gegenüber der Literatur wesentlich liberaler. Einen Index der verbotenen Bücher gibt es hier nicht. «Trotzdem war beispielsweise die Originalausgabe von ‚Mein Kampf’ wohl kaum je zu finden – und ist es weiterhin nicht», sagt Dani Landolf, Geschäftsführer des Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verbands. Bei über einer Million im «Verzeichnis der lieferbaren Bücher» gelisteten Titeln gebe es sicher den einen und anderen, den man lieber nicht ins Schaufenster stellen möchte. Der Entscheid liege jedoch bei jedem einzelnen Buchhändler.
Von Verboten oder Empfehlungen hält man auch bei den Kirchen nichts. «Die Berner Kirchenleitung rät nicht von bestimmten Büchern ab», erklärt Matthias Zeindler, Leiter Theologie der reformierten Landeskirchen Bern-Jura-Solothurn. «Eine solche Vorgabe würde dem reformierten Grundsatz der christlichen Mündigkeit widersprechen; jeder Christ und jede Christin ist selber in der Lage zu entscheiden, was für ihn oder sie gut beziehungsweise nicht gut ist.» Vielmehr traue man der Literatur zu, dass sie auch zu religiösen Themen Wichtiges zu sagen habe. Deshalb fänden vielerorts auch Gottesdienste mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern statt.
Umstrittener Harry Potter
Bei der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA), der Dachorganisation der Freikirchen, kennt man ebenfalls keinen «Index der verpönten Bücher». Ihm komme kein Buch in den Sinn, von dem die SEA abgeraten hätte, antwortet deren Mediensprecher Thomas Hanimann auf die entsprechende Frage. Es sei aber «gut möglich», dass es Bücher gebe, die in freikirchlichen Kreisen nicht besonders empfohlen würden und zu Diskussionen führten. So zum Beispiel Harry Potter – wobei es auch in den Freikirchen sowohl Befürworter als auch Kritiker gegeben habe. Dasselbe lasse sich von den Büchern «Der Schrei der Wildgänse» von Wayne Jacobsen oder «Die Hütte» vom William Paul Young sagen.
Übrigens: Dass Hitlers «Mein Kampf» heute wieder gedruckt wird, spricht für das offene Klima in Deutschland, in dem sich das lesende und denkende Individuum selber eine Meinung bilden darf. In Hitlers Deutschland war dergleichen nicht möglich – da brannten die Haufen mit den verbotenen, angeblich «undeutschen» Büchern bekanntlich lichterloh.
Hans Herrmann/reformiert.info
Der Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert», «Interkantonale Kirchenbote», und «ref.ch»
Vom Umgang der Christen mit bösen und weniger bösen Büchern