Von der Schriftrolle zur Influencerin
«Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott», beginnt das Johannesevangelium. Diese Zeilen zeigen die mediale Genetik des Christentums. Jesu Botschaft von der Nächsten- und Gottesliebe drängt nach Verkündigung. Der Nazarener selber schrieb nichts nieder, sondern zog als Wanderprediger durch Galiläa. Doch seine Visionen und sein Schicksal prägten sich seinen Jüngern ein.
Die Bibel wird zum Buch
In der Antike verbreitet sich das Christentum durch mündliche Überlieferung und handschriftliche Texte. Die Briefe des Apostels Paulus sind entscheidend für die ersten christlichen Gemeinden im Römischen Reich. Diese Schriften werden sorgfältig und oft unter schwierigen Bedingungen kopiert.
Mit der Erfindung des Kodex, des Vorläufers des modernen Buches, gewinnt das Christentum an Struktur. Die neue Form erlaubt es, grössere Textmengen kompakt zu sammeln. Im Gegensatz zur Schriftrolle kann man im Kodex direkt auf Textstellen zugreifen und sie vergleichen. Dies markiert die Geburtsstunde der theologischen Wissenschaft.
Die Bibel in Buchform bedeutete auch, dass nur bestimmte Texte aufgenommen werden. 376 n. Chr. legt der Klerus den Kanon des Neuen Testaments neben dem Alten Testament als Glaubensquelle fest. Damit verbindet die Kirche den christlichen untrennbar mit dem jüdischen Glauben. Selbst die Nationalsozialisten des 20. Jahrhunderts können diese Verbindung nicht trennen.
Klöster sind Hort des Wissens
Das Buch wird zum zentralen Medium des Christentums. Im Mittelalter kopieren Mönche und Nonnen in den Klöstern Manuskripte von Hand und verzieren sie mit Buchmalereien – zunächst auf Pergament, ab dem 12. Jahrhundert auf Papier. Nur wenige Menschen können lesen, geschweige denn Latein. Sie können jedoch sehen: Fresken, Bilder, Statuen und Altäre erzählen ihnen die biblischen Geschichten und Heiligenlegenden.
Im 15. Jahrhundert erfindet Johannes Gutenberg den Buchdruck. Diese Erfindung veränderte die Geschichte des Christentums grundlegend. Die Massenproduktion von Büchern, insbesondere der Bibel, revolutioniert den Zugang zu religiösem Wissen. Die Reformation im 16. Jahrhundert wäre ohne den Buchdruck kaum möglich gewesen.
Martin Luther und Huldrych Zwingli nutzen die neue Technik, um ihre Thesen, Schriften und Bibelübersetzungen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Plötzlich können Bürger die Bibel in ihrer eigenen Sprache lesen – und stellen schon bald die Autorität der Kirche in Frage. Gleichzeitig führt die Demokratisierung des christlichen Wissens zur Bibelkritik und in die Aufklärung.
Der Buchdruck ermöglicht auch die Verbreitung unzähliger Flugschriften: Der Papst wird dort als Hure Babylons dargestellt, Luther als Antichrist verunglimpft. Diese Propaganda schürt einen tiefen religiösen Hass zwischen dem neuen und dem alten Glauben, der Europa in die Religionskriege treibt.
Das Zeitalter der TV-Prediger
Im 20. Jahrhundert prägen Radio, Film und Fernsehen die Verbreitung der christlichen Botschaft. In den 1920er- Jahren übertragen die Sender die ersten Radiogottesdienste. 1931 gründet Papst Pius XI. Radio Vatikan, das zum zentralen Medium der katholischen Kirche wird. Der amerikanische Baptistenpastor Billy Graham erreicht über den Äther weltweit Millionen.
Später folgen die Fernsehprediger. Robert H. Schuller etwa motiviert von seiner Crystal Cathedral in Kalifornien aus Millionen mit seiner Sendung «Hour of Power». Joyce Meyer verpackt die Bibel in Lebenshilfe für Millionen Zuschauer. Und der Papst? Millionen sind live dabei, wenn er an Ostern den Segen «urbi et orbi» spendet.
In der Schweiz geht es weniger glamourös zu. Seit den 70 Jahren erreicht das «Wort am Sonntag» am Samstag ein breites Publikum. Das Konzept ist einfach: Pfarrer und katholische Geistliche kommentieren das Zeitgeschehen aus christlicher Sicht. Norbert Bischofberger, SRF-Redaktor Religion, nennt die Sendung einen «Wortbeitrag mit grosser Wirkung». «Fragen rund um Religion, Spiritualität und Philosophie sind heute und hoffentlich auch in Zukunft populär», meint Bischofberger.
Tummelplatz soziale Medien
Mit dem Internet in den 1990er-Jahren beginnt ein neues Zeitalter in der Kommunikation. Plattformen wie Youtube, Instagram und Tiktok bieten Predigten, Andachten, Bibelstudien und Meditationen. Vor allem die sozialen Medien werden zum Tummelplatz radikaler religiöser Bewegungen. Islamisten verbreiten hier Hassbotschaften und rekrutieren ihre Anhänger. Radikale Christen verkünden da das Ende der Welt.
Die Landeskirchen halten sich in Sachen Social Media zurück, setzen vereinzelt auf christliche Influencer. Die Evangelische Kirche in Deutschland etwa auf Jana Highholder. Die Medizinstudentin erreicht 50`000 Menschen im Netz. «Es geht um Inhalt und Form», sagt Highholder gegenüber dem «Kirchenboten». Die Form müsse mit der Zeit gehen, um die Jugend zu erreichen. Der Inhalt, die Wahrheit, sei zeitlos. «Sie war vor 2000 Jahren so aktuell wie heute.»
Dass Medien Konfessionen und Religionen prägen, stellt auch der Publizist Roger de Weck anlässlich eines Vortrags in Basel fest. Die Reformierten werden von der Kanzelrede und der Buchtradition geprägt, die Katholiken können sich mit ihrem telegenen Aufritt als Weltkirche im Fernsehen präsentieren. Und die Ausbreitung des radikalen Islam wäre ohne die sozialen Medien nicht so erfolgreich, so de Weck. Für ihn stellt sich bei den Protestanten die Frage, wie diese von der Buchtradition des 16. Jahrhunderts im digitalen Zeitalter des 21. Jahrhunderts landen.
Von der Schriftrolle zur Influencerin