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Vor 20 Jahren: Basler Jugendliche mobilisieren die Bevölkerung für Tsunami-Hilfe

von Martin Dürr
min
27.12.2024
Teenager mobilisieren die Stadt Basel: Eine bewegende Reportage über die 1-Franken-Aktion für Tsunami-Opfer vor 20 Jahren, die grosse Solidarität auslöste und 200'000 Franken für den guten Zweck sammelte. Ein Gastbeitrag von Martin Dürr.

Die 1-Franken-Aktion für die Tsunami-Opfer vor 20 Jahren – eine atemlose Reportage aus meiner Erinnerung – und eine der unglaublichsten Geschichten meines Lebens:

Am 29. Dezember 2004 sassen wir mit unserer Tochter Marilen Alison und ihrer Freundin Tina beim Abendessen. Die Mädchen planten, am nächsten Tag nach Freiburg zum Shoppen zu fahren und scherzten darüber, dass Gigi Oeri ihnen eine Million als Taschengeld schenken könnte. Doch die Stimmung kippte schnell, als wir die ersten Bilder der verheerenden Tsunami-Katastrophe sahen, die sich nach dem Unterseebeben vor Indonesien um die halbe Welt verbreitete. Das Gespräch wurde ernst, und die beiden Teenager wollten die Schweizer Millionäre auffordern, zu spenden. «So läuft das nicht», sagte ich, «was könnten WIR tun?»

 

Martin Dürr, inzwischen pensionierter Pfarrer, leitete zuletzt das Pfarramt für Industrie und Wirtschaft in Basel-Stadt und Baselland. Seine Tochter Marilen Alison Schwald und ihre Freundin Tina Augsburger-Waegeli initiierten die Einfrankenaktion. Später gewannen sie den Young Caritas Award und reisten nach Indien, um zu erleben, wie das gesammelte Geld half.

 

Ich erinnere mich nicht mehr, wer die Idee zuerst hatte. «Wenn alle Baslerinnen und Basler einen Franken spenden würden, käme schon viel Geld zusammen. Ein Franken kann sich jeder leisten, auch Jugendliche und sogar Kinder.» Ich sagte: «Es braucht Kässeli.» Die Mädchen rannten durch die Wohnung und kamen mit fünf Gefässen zurück. «Ihr braucht nicht fünf, ihr braucht hundert. Das geht nur, wenn ihr sie selbst bastelt.» «Wir brauchen Hilfe», sagten sie. Viele Freunde waren in den Weihnachtsferien, aber Balz Aliesch, der damals unter uns wohnte und schon junger Erwachsener war, war da. Sie riefen ihn an, und er kam nach oben. Ich dachte: Jetzt ist ein entscheidender Moment. Balz hörte sich die aufgeregten Mädchen an und sagte dann: «Cool. Ich mache ein Logo.»

Dann versuchten sie, am nächsten Tag alle Freundinnen und Freunde anzurufen, die vielleicht trotz Ferien in Basel waren. Am nächsten Tag waren etwa 20 Jugendliche in unserer Wohnung. Sie bastelten Plastikbecher zu Kässeli um, mit dem Aufkleber mit dem Logo von Balz. Inzwischen suchte ich Menschen in meinem Bekanntenkreis, die bereit wären, ihren Namen für ein «Patronats- und Matronats-Komitee» zu geben, damit klar war, dass das eine seriöse Sache ist. Tinas Vater, Philippe Waegeli, eröffnete ein Postcheckkonto und organisierte eine Sammelbewilligung.

 

Aus 10 Kässeli wurden 1000.

Aus 10 Kässeli wurden 1000.

 

Ich schrieb einer Journalistin bei Telebasel eine E-Mail und erhielt sehr schnell eine Antwort. Sie wollten am nächsten Tag mit einem Team vorbeikommen. Unsere Wohnung platzte inzwischen fast vor Jugendlichen und Kindern, die mithelfen wollten. Regula Duerr und Maya Waegeli schafften Essen und weitere Plastikbecher an, immer mehr Erwachsene boten ihre Unterstützung an. Auch viele aus meiner damaligen Gemeinde, der Johannesgemeinde. Alle waren froh, aus der Schockstarre nach den immer mehr steigenden Opferzahlen und den entsetzlichen Bildern aufzutauchen und wenigstens etwas Kleines zu helfen. Nicht wenige sagten: «Auch wenn es nur ein paar Hundert Franken gibt, wenigstens sind die Kinder beschäftigt.» (Die haben sich später alle entschuldigt...)

 

Martin Dürr nutzte die Sendung «Theologischer Tipp» im «Telebasel» als Werbung für die 1-Franken-Aktion..

Martin Dürr nutzte die Sendung «Theologischer Tipp» im «Telebasel» als Werbung für die 1-Franken-Aktion..

 

Dann kam der Bericht im «7vor7» auf «Telebasel». Catherine Thommen erklärte live, wie man einen Einfränkler in einen der Becher wirft. Unsere Telefonnummer wurde eingeblendet (unsere Privatnummer...). 20 Sekunden nach Ende des Berichts kam der erste Anruf. Dann Telefon nach Telefon, Leute beklagten sich, dass sie es x-mal versucht hätten. Alle wollten ein Kässeli, auch erste Geschäfte. Die Nachrichtensendung wurde jede Stunde wiederholt, auch um 2 Uhr morgens riefen noch Leute an (die Kinder hatten wir ins Bett geschickt). Baslerstab, bz Zeitung für die Region Basel und Radio Basilisk meldeten sich am nächsten Tag und wollten Interviews mit den Initiantinnen machen. Balz sass den ganzen Tag vor dem Computer und entwickelte die Website. Und unser Telefon...

Dann meldeten sich neben einigen anderen Medien wie «Kirchenbote» oder kleine Regionalfernseher und weitere Lokalradios auch das «Schweizer Fernsehen SRF News». Wir richteten eine Abholstation für die Kässeli ein, wir mussten die Kässelibastel-«Manufaktur« in einen anderen Raum verlegen, damit das möglichst reibungslos ablief. Sammlerinnen und Sammler erhielten einen Ausweis.

Mütter und Väter brachten Essen, Getränke, bestellten Pizza für die nach wie vor zahlreichen Helferinnen und Helfer und Menschen, die einfach vorbeikamen, um sich das anzusehen. Einige Erwachsene boten sich an, das Geld zu zählen, denn erste Sammelnde kamen zurück und brachten Geld, viel Münz aber auch Noten. Und wollten gleich neue Becher. Lehrer meldeten sich, die mit ihren Klassen und den Kässeli gleich nach den Ferien im neuen Jahr auf die Strasse gehen wollten. «Wir brauchen jetzt dringend etwas, das Hoffnung macht, dass wir anderen helfen können.» Inzwischen waren mehr als 1000 Kässeli im Umlauf. ALLE kamen gefüllt zurück.

 

Von kleinen Bechern wurde in viele grosse Eimer umgefüllt.

Von kleinen Bechern wurde in viele grosse Eimer umgefüllt.

 

Im Rahmen der grossen Glücksketten-Sendung auf «SRF» kam der Film über die Einfrankenaktion. Wir erhielten Anfragen aus der ganzen Deutschschweiz und aus Deutschland, wie sie teilnehmen könnten. Wir sagten: Macht selbst etwas, wir können das hier schon fast nicht mehr bewältigen! (Alles lief in unserer Wohnung und über unsere Privatnummer, nur um das hier noch einmal zu erwähnen.) Journalisten und Journalistinnen aus Print, Radio und TV meldeten sich täglich und fragten, wie der Stand der Sammlung sei. Bei Telebasel liefen interne Wetten (wie mir viel später eine Journalistin gestand) , ob die Jugendlichen es schaffen würden. Jeden Tag postete Balz den Stand auf der Website, dazu die Namen der Sammlerinnen und Sammler und die berührendsten Geschichten, die uns erreichten. «Telebasel» und «Radio Basilisk» brachten den Stand jeden Tag in ihren Hauptnachrichtensendungen.

 

Das Endresultat. Die Glückskette verzehnfachte diesen Betrag.

Das Endresultat. Die Glückskette verzehnfachte diesen Betrag.

 

Ich war knapp 10 Tage nach Beginn der Sammlung unterwegs in der Stadt, als ich einen Anruf von Balz erhielt. Im Hintergrund jubelten viele, ich verstand ihn erst fast nicht. «Wir haben es geschafft! 200'000 Franken sind erreicht!« Ich musste schwer schlucken. Eine verrückte Idee, der Einsatz von unzähligen Kindern, Teenagern, Schülerinnen und Lehrern, Erwachsenen bis hin zu einer 95 Jahre alten Frau hatten sich mehr als gelohnt. Eine verrückte, verrückte Zeit.

Das Geld ging dann zur Hälfte an das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz Heks und Caritas Schweiz, die Projekte in betroffenen Ländern unterstützten. Die Glückskette verzehnfachte diesen Betrag. Damit erhielten die Hilfswerke je 1 Million Franken – alles Dank einer Idee von Teenagern, die nicht einfach zur Tagesordnung übergehen wollten, wenn Hunderttausende andere zu Tode gekommen waren und Millionen Menschen direkt oder indirekt betroffen waren.

 

Symbolische Übergabe an den Vertreter des Heks.

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