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Kirchenbau von 1964 feiert Geburtstag

Walchwiler Wahrzeichen – gebaut von einem «Nobody»

von Sabine Windlin
min
24.10.2024
Vor 60 Jahren realisierte der Zuger Architekt Hans Peter Ammann (1933–2021) in Walchwil eine bemerkenswerte Kirche. Konstruktion, Materialisierung und Lage machen das reformierte Gotteshaus zu einem Kontemplationsort erster Güte.

Es gibt verschiedene Gründe, einen Gottesdienst zu besuchen: Menschen erleben Gemeinschaft, religiöse Andacht, finden Trost und Hoffnung oder lauschen den Worten der Heiligen Schrift. Der Grund eines Kirchenbesuchs kann aber auch im Gotteshaus selber begründet liegen. In dessen architektonischen Ausgestaltung und baukulturellen Bedeutung. Die reformierte Kirche Walchwil, 1964 von Peter Ammann realisiert, ist so ein Objekt. Die sakrale Ikone begeistert die Architekturszene und erfüllt Standort- sowie Kirchgemeinde gleichermassen mit Stolz. In der Schweizerischen Architekturbibliothek wird der Bau in den höchsten Tönen gelobt, als «beispiellosen, formal einprägsamen Pionierbau». Ein Blickfang ist diese Kirche, ein Wahrzeichen für Walchwil, das jeder kennt, der auf der Gotthardlinie zwischen Zug und Arth im richtigen Moment zum Fenster rausschaut.

Bauland clever genutzt

Wie ein kantiges Zelt erhebt sich der eigenwillige Betonbau mit dem kecken Glockenturm über einem Felsvorsprung am Zugersee. Konzeption und Konstruktion waren den speziellen, nicht einfachen Rahmenbedingungen geschuldet. Die für die Kirche auf dem Geländevorsprung reservierte Parzelle umfasst nur rund 1000 Quadratmeter, und in Respektierung aller Strassen- und Wegrechten verblieb noch ein 676 Quadratmeter grosser Baugrund.

Aufgedrängt hat sich ein zweigeschossiges Volumen, in welchem das gesamte Raumprogramm Platz hatte: Vorplatz, Foyer, Sitzungszimmer mit Nebenräumen und als Herzstück ein Kirchenraum mit 120 Sitzplätzen. Letzterer ist – für Sakralräume unüblich – im Obergeschoss angeordnet und scheint auf einer auskragenden Betonplattform zu schweben. Den First bilden zwei Diagonalen, die den Fassaden und Dachflächen die Form der charakteristischen rechtwinkligen Dreiecke geben. Wahrnehmbar ist eine Art kristalliner Körper, der in seiner Schlichtheit kompromisslos dem Modernen zugewandt ist. Das Grundrissquadrat ist übers Eck gestellt.

 

Ort der Kontemplation: Der Gottesdienstraum ist ausgestattet mit reduzierten Materialien ohne jeglichen Schmuck. | Foto: Regine Giesecke

Ort der Kontemplation: Der Gottesdienstraum ist ausgestattet mit reduzierten Materialien ohne jeglichen Schmuck. | Foto: Regine Giesecke

 

Zeittypisches Industrieprodukt

Bemerkenswert ist, dass der Kirchenraum selber, obwohl an aussichtsreicher Lage gebaut, über keine Fenster verfügt. Stattdessen ist die mit vertikalen Stahlprofilen strukturierte Fassade mit transluzenten Kunststoffplatten versehen. Transluzent? Gemeint ist eine partielle Lichtdurchlässigkeit.

Ammann verwendete ein gestaltbares, zeittypisches Industrieprodukt: leichte, wärmedämmende Platten aus glasfaserverstärktem, graublau eingefärbtem Kunstharz, die nach seinen Plänen bis zur gewünschten Maximallänge von sieben Metern in einem Stück gefertigt wurden. Durch die grossflächigen, bis zur Decke reichenden hellen Rasterbahnen dringt zwar reichlich gefiltertes und diffuses Tageslicht von draussen rein, doch eine Durchsicht gibt es nicht.

In protestantischer Tradition richtete Ammann die Aufmerksamkeit des Sakralbaus somit ganz nach innen und sorgt dafür, dass Kirchgänger nicht von der schönen Aussicht «abgelenkt» werden. Stattdessen finden sie ideale Verhältnisse vor, um sich andächtig und besinnlich zu sammeln. Für Behaglichkeit sorgen der mit hellbraunen Keramikplatten belegte Boden und die mit Kiefernholz verkleidete Decke. Die reduzierte Materialwahl verhilft dem ohne jeglichen Schmuck ausgestatteten Kirchenraum zu einem stilvollen und stillen Ort der Kontemplation. Der Zugang erfolgt über eine zentral angeordnete Wendeltreppe.

 

Der Zugang zum Kirchenraum erfolgt über eine zentral angeordnete Wendeltreppe. | Foto: Regine Giesecke

Der Zugang zum Kirchenraum erfolgt über eine zentral angeordnete Wendeltreppe. | Foto: Regine Giesecke

 

Ein Telegramm nach Brasilien

Spannend sind die Umstände, die zum Bauwerk führten. Ammann, war damals nämlich noch ein Nobody. 1933 geboren, schloss er mit 24 Jahren sein ETH-Studium ab und beteiligte sich anschliessend am Wettbewerb, den die evangelisch-reformierte Kirche 1960 ausschrieb. Sein Entwurf – einer von insgesamt elf eingereichten – überzeugte die Jury auf Anhieb. Als er am 24. Dezember des gleichen Jahres per Telegramm Bescheid erhielt, dass er den Wettbewerb gewonnen hatte, weilte Ammann allerdings in Sao Paulo, Brasilien. Den auf zwei Jahre anberaumten Auslandaufenthalt musste er unverhofft abbrechen. Die Auftraggeberin drängte und wollte Ammann für Detailplanung und Ausführung so schnell wie möglich vor Ort wissen. Im Mai 1961 kehrte Ammann nach Zug zurück, eröffnete sein eigenes Architekturbüro und trieb das Projekt «Walchwil» bis zur feierlichen Einweihung im August 1964 voran.

«Zahlreiche Menschen aus aller Welt haben in den vergangenen sechzig Jahren Gefallen an dieser einst nicht unumstrittenen Kirche gefunden und fühlen sich auch heute wohl darin», betonte Pfarrerin Antje Gehrig-Hofius, als die Kirchgemeinde am Sonntag, 25. August 2024, den Jubiläumsgottesdienst feierte. Speziell begrüsst wurde ein Ehepaar, das sich vor sechzig Jahren im prägnanten Baudenkmal trauen liess. Eine umfangreiche Sanierung erlebte die Kirche um 1999. Trotz vielen Massnahmen und Anpassungen konnte eine «Kinderkrankheit» nicht behoben werden: Der schwach isolierte Kirchenraum vermag im Winter die Kälte nicht im gewünschten Mass abhalten. Und im Sommer wird es darin wegen der stark exponierten Lage gegen Südwesten ziemlich heiss.

 

Einladende Terrasse mit atemberaubendem Blick auf den Zugersee, die Rigi, das Mittelland und die Berner Alpen. | Foto: Regine Giesecke

Einladende Terrasse mit atemberaubendem Blick auf den Zugersee, die Rigi, das Mittelland und die Berner Alpen. | Foto: Regine Giesecke

 

Atemberaubende Ausblicke

Die Kirchgemeinde und ihre Mitglieder scheinen diesen Makel mit Fassung zu tragen. Entspannt griffen sie während des Festgottesdienstes zu den Fächern, die parat lagen, und wedelten sich durch eifrige Handbewegungen etwas kühlere Luft zu. Anschliessend dislozierten sie auf die einladende Terrasse und genossen bei einem Apéro riche den atemberaubenden Blick auf den Zugersee, die Rigi, das Mittelland und die Berner Alpen.

In diesem Moment trat das ikonische Bauwerk vornehm in den Hintergrund, stand nur noch im Dienst der kirchlichen Gemeinschaft und machte deutlich, was der Luzerner Architekt und Publizist Otti Gmür in Bezug auf die Qualität von Ammanns Schaffen in einer umfassenden Monografie treffend formulierte: «Wenn das Absichtsvolle zu Gunsten selbstverständlich geordneter Brauchbarkeit zurücktritt, kann ein Gebäude über Aufgabe, Ort und Gestalt hinaus bedeutsam werden. Ammann hat Formen von Richtigkeit und Stimmigkeit für seine Aufgabenstellungen gefunden und diese in sorgfältiger baumeisterlicher Art in Baukultur umgesetzt.» Ein Besuch vor Ort kann – ob gläubig oder nicht – vorbehaltlos empfohlen werden.

 

| Foto: Regine Giesecke

| Foto: Regine Giesecke

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