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Interview mit Aline Kellenberger, Pfarrerin

Was ist dran an der Weihnachtsgeschichte?

von Tilmann Zuber
min
22.12.2023
Die Geburtsgeschichte Jesu kennt jedes Kind. Doch was steckt hinter den Erzählungen rund um die Krippe? Und was ist historisch belegt? An der Weihnachtsgeschichte ist einiges dran, sagt die Luzerner Pfarrerin Aline Kellenberger.

Aline Kellenberger, Ihre Kursreihe trägt den Titel «Was ist dran an der Weihnachtsgeschichte?». Wie lautet Ihre Antwort?

Einiges. Ihre Frage zielt auf den historischen Wahrheitsgehalt ab. Die Wissenschaft ist sich darüber nicht einig. Die einen sagen, es sei ein literarisches Konstrukt, das aus der Perspektive von Ostern geschrieben wurde, die anderen, nur weil man nicht alles historisch belegen könne, heisse das nicht, dass es keinen historischen Kern hat.

Was ist historisch belegt?

Die Existenz Jesu ist historisch unbestritten, auch durch ausserbiblische Quellen. Ebenso Gestalten wie Kaiser Augustus, Herodes der Grosse oder der Statthalter Quirinus. Auch die Herrschaft der Römer über Palästina oder die Tyrannei von Herodes stehen fest. Nicht belegt ist jedoch etwa der Kindermord von Bethlehem, vielleicht war er so unbedeutend, dass er nicht aufgezeichnet wurde, oder er hat nicht stattgefunden. Wenn Erzählungen historisch nicht belegbar sind, heisst das nicht, dass sie erfunden sind. Vielleicht sind es Erinnerungen an ein damaliges Geschehen.

Ist es schlimm, dass so viele Fakten fehlen?

Keineswegs. Die Weihnachtsgeschichten sind keine historischen Texte, sondern Glaubenstexte. Sie bewahren die urchristliche Erinnerung an die Geburt Jesu Christi. In ihnen klingt die Erfüllung und Hoffnung der alttestamentlichen Verheissungen an. Auch als Atheistin kann ich diese Erzählungen als ein grossartiges Stück Weltliteratur lesen.

Die Geburt Jesu – so wie sie die Evangelien schildern – hat nichts mit einer heilen Welt zu tun.

Sie sagen Weihnachtsgeschichten, weil die Evangelisten Lukas und Matthäus jeweils ihre eigene Geschichte erzählen. Worin unterscheiden sie sich?

Die von Matthäus ist kürzer, die von Lukas länger und entspricht eher unserer «klassischen» Weihnachtsgeschichte. Lukas verwebt das Schicksal Jesu mit dem von Johannes dem Täufer und gliedert die Geschichte durch Lieder. Lukas ist der Verfasser sowohl des Evangeliums als auch der Apostelgeschichte. Er schreibt vom Ende des 1. Jahrhunderts mit dem Blick auf den Ursprung der Kirche. Deshalb taucht bei ihm immer wieder der Tempel als Vorläufer der Kirche auf. Matthäus hat eine andere Intention. Mit dem einleitenden Stammbaum zeigt er, wie eng Jesus mit der Geschichte Israels verbunden ist. Die Geburt selbst wird bei Matthäus nicht geschildert. Mit der Erzählung von den drei Magiern, die dem Stern folgen, und dem Kindermord zeigt er unter anderem, wie Jesus schon von Anfang an bedroht ist. Diese Bedrohung zieht sich durch das ganze Matthäusevangelium. Interessant sind auch die unterschiedlichen Rollen der Protagonisten: Bei Lukas spielt Maria, der ein Engel die Geburt Jesu verkündet, eine wichtige Rolle. Im Matthäusevangelium hat Josef die bedeutendere Rolle. Die beiden Evangelisten haben auch einen anderen Fokus in der Weihnachtsgeschichte: Matthäus zeigt, wer Jesus ist, Lukas, wer die Menschen sind, denen sich Gott zeigt.

Die beiden Weihnachtsgeschichten wurden miteinander verschmolzen. Ausserdem wurden sie in die Winterlandschaft Europas eingebettet. Wird die Geschichte der Geburt Christi heute zu sehr verklärt?

Ja, die Geburt Jesu – so wie sie die Evangelien schildern – hat nichts mit einer heilen Welt zu tun. Das Kind kam fast unter freiem Himmel zur Welt, das Leben unter der Herrschaft der Römer war hart. Wenn wir die Weihnachtsgeschichte erzählen oder darüber predigen, dann blenden wir gewisse Passagen wie den Kindermord in Bethlehem meist aus. Wir halten uns lieber an die schönen Geschichten vom Engel und den Hirten auf dem Feld. Dabei ist der Hirtenberuf bis heute ein Knochenjob. Hinter unserer Verklärung steht vermutlich eine Sehnsucht – nicht zuletzt auf den Frieden auf Erden, den die Engel besingen. Und damit verbindet sich vielleicht die Hoffnung, dass sich die Verhältnisse umkehren und die Ärmsten Gerechtigkeit erfahren und etwas vom Reichtum der Wohlhabenden erhalten. Gerade in der heutigen Welt ist diese Sehnsucht verständlich.

Für die ersten Christen war Weihnachten kein Thema.

Es ist faszinierend, dass Gott den Menschen in einem Kind nahe kommt.

Ja, jedes Kind, das zur Welt kommt, verkörpert ein Stück Hoffnung. Das spüren wir alle. Für uns Christinnen und Christen ist es ein besonderes Kind. In ihm kommt uns Gott nahe, wird Gott spürbar – insbesondere dann auch im späteren Leben und Wirken von Jesu.

Was viele nicht wissen: Weihnachten wurde nicht von Anfang an gefeiert.

Ja, fĂĽr die ersten Christen war Weihnachten kein Thema. Wichtig und zentral war Ostern, das Fest der Auferstehung. Die Feier der Geburt Christi entwickelte sich erst im 4. Jahrhundert, als das Christentum Staatsreligion wurde.

Was unterscheidet die Geburt Jesu von anderen Geburtsgeschichten in der Antike?

In der griechisch-römischen Kultur gibt es viele besondere Geburtsgeschichten, zum Beispiel von Herakles, Alexander dem Grossen oder Augustus. Dort zeugt eine Gottheit mit einer Sterblichen den Helden. Da besteht der grosse Unterschied zur Bibel: Gemäss den Evangelien wird Jesus vom Heiligen Geist gezeugt, also durch Gottes Schöpferkraft. Ausserhalb der Bibel gibt es dazu keine Parallele.

Sie sprechen von der Jungfrauengeburt?

Ja, die Zeugung Jesu ist ein geistiger Akt, so wie alles Schöpferische von Gott ausgeht. Die Jungfrauengeburt bleibt letztlich ein Geheimnis, genauso wie das Ostergeschehen. Beides ist mit menschlichem Wissen nicht erfahrbar oder erklärbar.

Dass Gott sich ganz auf uns einlässt, ist für mich immer wieder ein Wunder.

Was ist fĂĽr Sie die Botschaft der Weihnachtsgeschichte?

Dass Gott Mensch wurde und sich ganz auf uns einlässt. Für mich ist dies immer wieder ein Wunder und der Kern meines Glaubens. In der Seelsorge erlebe ich, wie dieser Gedanke auch heute Menschen in schwierigen Situationen berührt und sie tröstet – selbst wenn sie in diesem Moment Gott infrage stellen.

Lohnt es sich, an Heiligabend die Weihnachtsgeschichte vorzulesen?

Sicher, es wäre schön, nicht nur ein Kapitel zu lesen, sondern die ganze Geschichte. Wir würden dann sehen, wie aktuell sie ist. Etwa zur Situation der Flüchtlinge. Die Geburt Christi ist auch eine Fluchtgeschichte, die uns Fragen stellt zu unserem Umgang mit Flüchtlingen hier und heute. Plötzlich wird die Geschichte vom Flüchtlingskind politisch.

 

Aline Kellenberger ist Pfarrerin der Citykirche Mätthäus Luzern und führte dort einen Workshop zum Thema «Was ist dran an Weihnachten?» durch.

 

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