Weihnachten schon am ersten Advent?
Wir schreiben das Jahr 2020. Sie wissen schon: Am 24. Dezember wird die Kirche leer bleiben. Daher soll ein vorab gedrehter, sorgfältig inszenierter Heiligabend-Gottesdienst-Film das Live-Erlebnis ein Stück weit ersetzen. Der Pfarrer predigt, der Organist spielt «Lobt Gott Ihr Christen allzugleich» und auch unser Familien-Streichquartett ist mit von der Partie, wie schon in den Vorjahren bei den Christnachtfeiern in Schwanden.
Festlich gekleidet nehmen wir auf den Holzstühlen vor dem Tannenbaum Platz und lassen «Tochter Zion» und Corellis «Pastorale» erklingen. Anfangs fühlt sich das eigenartig an, wie eine Frühgeburt. Aber dann steckt uns die Weihnachtsstimmung an und bleibt auch in den nächsten Wochen präsent – während wir früher oft erst im letzten Moment, am Ende einer stressigen Adventszeit, von ihr eingeholt wurden: «Waaas, schon Weihnachten?? Hoppla!!»
2020 dagegen fühlte es sich so an, als ob man sich Weihnachten nicht erst «erkämpfen» musste. Weil es schon da war. Eine ruhige Gewissheit. Ein Glanz über dem Alltag. «Wäre es nicht schön, dieser Erfahrung auch in den folgenden Jahren Raum zu geben?», frage ich mich. «Aber ist das theologisch überhaupt akzeptabel? Weihnachten schon am ersten Advent?»
Ich erinnere mich an eine Geschichte, die wir als Kinder vorgelesen bekamen: Eine Familie mit einem todkranken Kind zieht das Weihnachtsfest vor, weil es der grösste Wunsch der Tochter ist, dieses noch einmal zu erleben. Ich fand das damals genau richtig! Und dann kommt mir wieder Heinrich Bölls Erzählung «Nicht nur zur Weihnachtszeit» in den Sinn, in der das Weihnachtsfest für eine alte Dame jeden Tag stattzufinden hatte. Man mag über diese Geschichte lachen. Aber was würde es verändern, wenn wir uns täglich neu freuen könnten: Uns ist heute der Heiland geboren? Mal ehrlich: Anstatt den unsäglichen «Black Friday» von einem Tag auf eine Woche und gar auf den ganzen Monat auszudehnen, hätte ich lieber einen Monat Weihnachten! Also nicht einfach nur drei freie Tage, viel Lametta und fettes Essen, sondern: Das Wunder der göttlichen Geburt, dieses neue Kapitel unseres Menschseins mit Jesu Ankunft einen Monat lang erleben. Gott will unter uns wohnen. Ist das nicht unbegreiflich? Können wir darüber noch staunen? Wie würden wir Menschen miteinander umgehen, wenn wir das nicht nur drei Tage lang an uns heranlassen würden?
Schwanden, das 2500-Seelen-Dorf im Glarner Hinterland, macht dieses Jahr eine schwere Zeit durch: Durch einen Hangrutsch wurden Teile des Ortes unbewohnbar, Häuser verschüttet, Menschen verloren ihr Obdach. Erinnert uns das an die Not von Maria und Josef? Wir sind aufgerufen zur Solidarität. Aber nebst diesem erschütternden Ereignis hat Schwanden heuer auch viel Grund zur Freude: Die Dorfkirche, welche gerade aufwändig renoviert wurde, erlebt im Advent seine glanzvolle Wiedereröffnung. «Ob wir am Heiligabend nochmal die Musik des Christnacht-Films von 2020 spielen könnten?», fragt uns der Pfarrer. Aber gerne doch! So kommt es, dass bereits am Ewigkeitssonntag in unserer Stube «Tochter Zion» und Corellis «Pastorale» geübt werden. Und Weihnachten beginnt …
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Adventszeit!
Swantje Kammerecker
Swantje Kammerecker ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Kultur, Bildung, Medizin. Daneben schreibt sie Kinderbücher, Kurzgeschichten und Gedichte.
Weihnachten schon am ersten Advent?