Wenn Fake News und Gerüchte tödlich enden
Die Christen zündeten Rom an
64 nach Christus brennt Rom, viele Quartiere der Hauptstadt des Römischen Reiches werden zerstört. Schon bald kommt das Gerücht auf, dass Kaiser Nero den Brand gelegt habe. Der Verdacht verdichtet sich, denn das Feuer brach an mehreren Stellen gleichzeitig aus und viele der alten, stinkenden Stadtteile waren Nero ein Gräuel. Nero lenkt das Misstrauen der Bevölkerung auf eine neue Sekte. Er beschuldigt die Christen der Brandstiftung und lässt sie äusserst brutal hinrichten. Der Brand von Rom wird zum Fanal der ersten Christenverfolgung.
Ritualmord an Kindern
Die Legende des Ritualmords richtete sich immer wieder gegen religiöse Minderheiten. In der Antike beschuldigen Griechen und Römer die Juden des Kindsmordes, später die Christen.
Ihren Höhepunkt feiert diese Verschwörungstheorie im Mittelalter mit der abstrusen Behauptung, Juden brauchten das Blut von Christenkindern für ihre Mazzen am Pessachfest. 1144 taucht im englischen Norwich erstmals der Vorwurf auf, Juden hätten zum Pessachfest ein Kind entführt und gemartert wie Christus am Kreuz. Thomas von Monmouth erschafft um 1150 diese Legende, er will mit der Märtyrergeschichte wundergläubige Pilger anlocken.
Als Reaktion kommt es zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung. Das Lügengeflecht vom Ritualmord verbreitet sich über ganz Europa. Juden werden inhaftiert, gefoltert und hingerichtet. Die Legende verbindet Antisemitismus und Hass auf eine Minderheit mit der magischen Vorstellung, dass das Blut von Kindern oder Christi nötig sei für das Heil. Nur wenn Blut fliesse, sei der Mensch mit Gott versöhnt.
Juden vergifteten die Brunnen
Im Mittelalter raffen die Pest und Cholera unzählige Menschen dahin. In den verdreckten, engen Städten verbreiten sich die Seuchen rasant. Der Schwarze Tod wütet in Europa. Vielerorts macht das Wasser der Brunnen krank.
Bald hat die Bevölkerung die Schuldigen dieser Krankheiten ausgemacht: Die Juden, denen man Heimtücke, Schadenszauber und Feindschaft gegen die Christenheit unterstellt. 1321 wird in Südfrankreich erstmals den Juden vorgeworfen, die Brunnen zu vergiften. Die Mauren und Türken hätten sie dafür bezahlt. Hunderttausende Juden werden verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Rund 350 jüdische Gemeinden in Europa werden ausgelöscht.
Auch in der Schweiz breitet sich die Mär der Brunnenvergiftung aus. 1348 werden die ersten Juden in Lausanne und Chillon am Genfersee verhaftet. Ein jüdischer Arzt gesteht unter Folter, das Gift zusammengebraut zu haben. Der Verdacht der Brunnenvergiftung greift auf Freiburg im Breisgau, Strassburg, Zofingen, Solothurn, Bern und Basel über. 1349 lässt der Rat von Basel 600 Juden auf einer Sandbank im Rhein verbrennen. 130 jüdische Kinder werden zwangsgetauft.
Als Frauen zu Hexen wurden
Nicht nur im Mittelalter, sondern vor allem in der anbrechenden Neuzeit kursiert die Theorie, dass Frauen einen Bund mit dem Teufel eingehen. In ganz Europa beschuldigen der Klerus, die Räte und die Bevölkerung die Frauen, mit dem Teufel eine Buhlschaft, also Geschlechtsverkehr, zu pflegen. Mit Schadenszauber hätten sie ihre Nachbarn und Tiere verhext. Und am Hexensabbat würden sie mit dem Besen durch die Nacht fliegen. Zehntausende werden hingerichtet. Der Dominikanermönch Heinrich Kramer fasst den grassierenden Hexenwahn im «Hexenhammer» zu einem pseudowissenschaftlichen Werk zusammen. Das Substrat aus sexueller Perversität, Hass auf Frauen und Hexenglauben beeinflusst Jahrhunderte lang die Rechtsprechung. Die letzte Hexe Europas wird 1782 in Glarus hingerichtet. Heute gibt es Hexenglaube noch in Teilen Afrikas.
Die Verschwörung der Katholiken und Jesuiten
Im 16. Jahrhundert tritt Heinrich VIII. zum protestantischen Glauben über. Der Papst hatte sich geweigert, seine Ehe mit Königin Katharina von Aragon zu annullieren. Heinrich bricht mit Rom und ernennt sich selbst zum Oberhaupt der englischen Kirche. Er lässt Klöster schliessen und verfolgt die Katholiken.
Auch im Adel regt sich Widerstand, vor allem in den Familien Pole und Courtenay. Heinrich VIII. lässt einige Mitglieder der Familie verhaften, foltern und wegen der Unterstützung der Katholiken und Hochverrats hinrichten.
1678 taucht die Papisten-Verschwörung abermals auf: Der korrupte anglikanische Pfarrer Titus Oates behauptet, er habe eine Konspiration aufgedeckt, Katholiken wollten König Karl II. ermorden. Die Vorwürfe verbreiten sich rasch.
Oates nennt zahlreiche Namen von Jesuiten. 1664 bricht in England die Pest aus, 1666 brennen grosse Teile Londons nieder. Die Verschwörungstheorie von den feindlichen Agenten des Papstes, die in England ihr Unwesen treiben, bekommt Auftrieb. Angst und Hysterie breiten sich aus und bestimmen die Politik. Beflügelt beschuldigt Oates etliche Prominente. Als er selbst die Königin beschuldigt, lässt ihn Karl II. ins Gefängnis werfen. Trotzdem beschliesst das Unterhaus, dass Katholiken nicht mehr den beiden Häusern des Parlamentes angehören dürfen.
Mitte der 1840er-Jahre schwappen die antikatholischen Verschwörungstheorien in die Neue Welt über. Protestantische Geheimgesellschaften um den New Yorker Rechtsanwalt Charles Allen bekämpfen den Einfluss der irischen Einwanderer und der katholischen Kirche. Die «Knownothings» behaupten, die Katholiken wären Teil der Verschwörung des Papstes gegen die liberalen Werte der USA. Sie erschweren den Katholiken den Weg einer politischen Laufbahn und eine Karriere in der Gesellschaft. John F. Kennedy war 1960 der erste katholische Präsident der USA.
Die Loge und der Satan
Vor der Feder von Léo Taxil ist niemand gefeit. In seiner Schmähschrift «Die geheimen Liebschaften von Pius IX.» nimmt der französische Autor den Papst aufs Korn. Doch dann wandelt Taxil sich vom Saulus zum Paulus. Taxil outet sich als treuer Sohn der Kirche. Als Schriftsteller nimmt er sich die Freimaurer vor, die ihn wegen unsauberer Geschäfte aus der Loge ausgeschlossen hatten. Taxil verleumdet die Loge und veröffentlicht angebliche Enthüllungen über geheime satanische Riten. Er wirft den Freimaurern vor, Luzifer zu verherrlichen und Schwarze Messen zu feiern, und untermauert seine Behauptungen mit angeblichen Augenzeugenberichten. Taxils Verschwörungstheorie sollte noch lange fortbestehen.
Die Protokolle der Weisen von Zion
Das Ende des Mittelalters, die Aufklärung, die Trennung von Kirche und Staat und der aufkommende Liberalismus ändern wenig am Antisemitismus. Immer neue Verschwörungstheorien schüren den Hass auf die Juden. 1903 erscheinen im russischen Zarenreich die geheimen Dokumente eines angeblichen Treffens von jüdischen Weltverschwörern. 1921 entlarvt die «Times» die «Protokolle der Weisen von Zion» als Fälschung.
Trotzdem verbreitet sich die antisemitische Verschwörungstheorie von den Juden, welche die Weltherrschaft anstreben in Europa und den USA. Juden wie Karl Marx, Charles Darwin und Friedrich Nietzsche wird vorgeworfen, mit ihren Lehren die Gesellschaft zu zersetzen. Dazu würden Juden die Wirtschaft unterwandern und das Geld verknappen. Die Nationalsozialisten machen die Protokolle der Weisen von Zion zur Grundlage ihres Rassenwahns.
Der Mädchenhandel von Orléans
1969: Studenten protestieren auf den Strassen, die sexuelle Revolution setzt neue Normen. Da kommt die Nachricht, dass 28 Mädchen in Orléans verschwunden seien. Angeblich hätten sie ein Modegeschäft aufgesucht und seien in den Umkleidekabinen betäubt und im Keller gefangen gehalten worden. Dann habe man sie mit einem U-Boot nach Tanger gebracht, wo sie als Prostituierte arbeiten. Später wird behauptet, die Besitzer des Geschäftes seien Juden.
Anhand dieser Geschichte zeigt der Soziologe Edgar Morin, wie solche Verschwörungstheorien entstehen: Hintergrund dieser Fiktion sind mehrere Vorkommnisse. In den 1960er-Jahren machen Aktivisten in Frankreich auf den «Weissen Sklavenhandel» aufmerksam. Der Schriftsteller Stephen Barlay greift dieses Thema in seinem Roman «Die Sex-Händler» auf und die Boulevardpresse befeuert den Skandal. Den Kern der Verschwörungstheorie findet Morin in einer Mädchenschule. Dort berichten die Mädchen, dass ihnen dies passiert sei. Fantasien beflügeln die Geschichte. Besorgte Mütter verbreiten die Gerüchte, denn die Mini-Mode und die sexuelle Freizügigkeit geben in der französischen Provinz Anlass für die wildesten Spekulationen.
Die Ermordung von Papst Paul I.
1978 wird Johannes Paul I. zum Papst gewählt. Doch im selben Jahr stirbt er. Sein Nachfolger wird Johannes Paul II. Während im Vatikan die Geschäfte weitergehen, beginnen die Verschwörungstheorien. Hatte man Albino Luciani, wie der Papst mit bürgerlichem Namen hiess, ermordet? Warum verweigern der Vatikan und die Familie die Obduktion? 1984 veröffentlicht David Yallop das Buch «Im Namen Gottes». Er behauptet, Papst Johannes Paul I. habe die korrupten Machenschaften der Vatikanbank aufgedeckt und sei deshalb ermordet worden. Bis heute hält sich diese Version der Geschichte.
Tillmann Zuber, Kirchenbote, 22.10.2018
Wenn Fake News und Gerüchte tödlich enden