«Wertschätzung ist für die Beziehung wie das Benzin fürs Auto»
Frau Hofer, die Beratungsstelle feiert ihren 50. Geburtstag. Wie hat sich die Tätigkeit in den letzten fünfzig Jahren verändert?
Früher begleiteten Pfarrpersonen die Paare, die Schwierigkeiten in der Beziehung hatten. Mit der Beratungsstelle schuf man eine neutrale Stelle mit therapeutisch geschulten Beratenden. Auch die Konzepte haben sich verändert. Mittlerweile gibt es die verschiedensten Therapie-Ansätze, die helfen, die Bindung zu stärken, besser miteinander zu reden oder Streit zu bewältigen. Zudem änderte sich in den letzten 50 Jahren die Gesetzeslage. 1971 trat das Frauenstimmrecht in Kraft, 1988 passte man das Eherecht in Bezug auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau an, 2007 kam die eingetragene Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare, 2014 das gemeinsame elterliche Sorgerecht und vor zwei Jahren die Unterscheidung zwischen Betreuungs- und Barunterhalt für Kinder im Fall der Trennung.
Apropos Gleichberechtigung: Bis Sie 1998 zum Team stiessen, lag die Beratung ausschliesslich in den Händen von Männern. Heute sind zwei Frauen zuständig. Ist die Beratungstätigkeit weiblicher geworden?
Es gibt heute allgemein mehr Therapeutinnen als Therapeuten. In Deutschland beträgt das Verhältnis von männlichen und weiblichen Therapeuten 29 zu 71 Prozent, und bei den Therapeuten unter 35 Jahren sind 91 Prozent weiblich.
Haben Frauen einen anderen Blick auf Beziehungen?
Das denke ich nicht. Ich glaube, dass Menschen Beziehungen unterschiedlich betrachten. Man weiss, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern kleiner sind als innerhalb der Geschlechter. Der Blick auf Beziehungen hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab.
Welche Themen beschäftigen die Paare und Familien, die zu Ihnen kommen?
Die Themen haben sich mit dem Rollenverständnis verändert. Das Leben bietet heute sehr viele Optionen. Das schafft viel Konfliktpotenzial. Man muss dauernd Absprachen treffen, zum Beispiel wer wie viel, wann und wo arbeitet und wie die die Betreuung der Kinder aufgeteilt wird. Neben der Mobilität ist die Digitalisierung eine Herausforderung. Die Partner können einander z.B. viel einfacher kontrollieren. Früher hat man mit dem Partner geredet, wenn man glaubte, dass er fremdgeht. Heute kann man je nach dem heimlich den ganzen WhatsApp-Chatverlauf nachverfolgen. Allen Beziehungsschwierigkeiten liegt jedoch die Frage nach der Wertschätzung zugrunde: Fühle ich mich von der Partnerin geliebt? Kann ich mich auf meinen Partner verlassen? Und wichtig ist die Balance zwischen Verbundenheit und Autonomie.
Wenn die Beziehung scheitert, hilft die Therapeutin herauszufinden, was falsch läuft, und rettet die Beziehung. Stimmt diese Vorstellung?
So einfach ist es nicht. Kein Therapeut kann eine gescheiterte Beziehung retten. In der Therapie geht es darum, dass beide Partner verstehen, was passiert ist. Welche Muster laufen ab, welche Verletzungen sind da? Die Partner tauschen sich über ihre gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen aus und finden heraus was diese ihnen bedeuten. Sie sollen einander sagen können, was sie verletzt oder wonach sie sich sehnen. Ich als Therapeutin bin neutral und versuche, einen sicheren Rahmen zu schaffen. Mein Ziel ist es, dass die Partner einander zuhören und sich emotional voneinander berühren lassen. Das ist oft nicht der Fall, wenn sie alleine miteinander zu reden versuchen. Auf diese Weise können sie einen Lösungsweg entwickeln.
Was kann man von einer Paartherapie erwarten? Bedeutet sie nicht oft den Anfang vom Ende einer Beziehung?
Es kann sein, dass sich bei den Gesprächen herausstellt, dass ein Partner sich trennen möchte. Aber uns suchen auch Paare auf, denen etwas am anderen liegt. Sie wollen ihre Beziehung neu gestalten. Wenn beide nach wie vor etwas füreinander empfinden, finden sie vielleicht wieder zu mehr Verbundenheit. Wenn aber die Liebe beim einen weg ist, dann kann die Therapie diese Liebe nicht mehr zum Leben erwecken.
Woran scheitern die Beziehungen?
Das ist sehr vielfältig. Die Lebensübergänge sind immer kritisch. Etwa, wenn ein Paar Eltern wird. Zum Teil kommen Paare erst, wenn die Kinder schon älter sind. Sie stellen dann fest, dass sie durch die neue Aufgabe ihre Verbundenheit verloren haben. Nach zehn Jahren ist die Beziehung verhungert und verdurstet. Sie haben zu lange gewartet. Kann man in der Beziehung nicht sich selber sein oder darüber sprechen, was man fühlt und was man braucht, führt das zu ständigen Konflikten. Irgendwann zerbricht die Beziehung daran.
Die Partner müssen gute Eltern sein, Ernährer, leidenschaftliche Liebhaber und verständnisvolle Zuhörer, dabei Karriere machen und noch möglichst nebenbei die Hausarbeit erledigen. Die Ansprüche sind hoch.
Man bekommt nicht alles unter einen Hut, das ist unrealistisch. Dahinter steht ein romantisches Beziehungsideal vom Partner fürs Leben, mit dem dies alles möglich ist. Als Versorgungsehen eingegangen wurden, erwartete man gar nicht, dass die Liebe in der Ehe stattfindet. Es ist wichtig, dass man miteinander redet, gut zuhört, sich darüber austauscht, was einem wichtig ist in der Beziehung, und dann Prioritäten setzt, Absprachen trifft und auch eigene Lebensbereiche pflegt.
Haben Sie Tipps, wie man den Fallstricken in der Beziehung entgeht?
Man sollte sich regelmässig Zeit zu zweit nehmen. Bevor Kinder da waren, hat man bestimmt einiges zusammen unternommen und Schönes erlebt. Dies sollte man beibehalten. Einander wertschätzen, sich nicht als selbstverständlich nehmen, ist sehr wichtig. Was das Benzin fürs Auto, ist die Wertschätzung für die Beziehung. Man sollte zu sich stehen und sich einbringen mit seinen Ängsten, Sorgen und Wünschen. Man sollte offen bleiben und versuchen, vorgefasste Meinungen zu durchbrechen und Verletzungen zu vergeben.
Wertschätzung bedeutet für jeden etwas anderes.
Ja, der Klassiker: Er bringt ihr Blumen und sie fragt sich, was er wohl ausgefressen hat. Das kann zu Missverständnissen führen. Aber woran merke ich, dass ich geliebt werde, und wie zeige ich, dass ich liebe? Dies versuche ich in den Therapien mit den Paaren herauszufinden. Dem einen tut Zweisamkeit gut, der andere zeigt seine Liebe durch Hilfsbereitschaft. Man sollte einander sagen, wann man sich geliebt fühlt, sonst wird man enttäuscht.
Weniger Trauungen, mehr Scheidungen, traditionelle Familie, Patchwork- und Regenbogenfamilien: Wie werden sich Paar- und Familien-Beziehungen in Zukunft verändern?
Sie haben sich in den letzten 50 Jahren bereits sehr stark verändert. Aber das menschliche Grundbedürfnis nach Bindung bleibt bestehen: Jeder wünscht sich einen Menschen, der mit einem durchs Leben geht und Schönes wie Schwieriges teilt. Dies wird auch weiterhin in den unterschiedlichen Beziehungs- und Familienformen so bleiben.
Zum Schluss: Wann haben Sie Ihrem Partner zuletzt gesagt, dass Sie ihn lieben?
Gestern per WhatsApp. Wir versuchen, jeweils über Mittag kurz hallo zu sagen. Um jemandem zwischendurch zu sagen, dass man an ihn denkt, schätze ich die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten sehr.
Karin Müller, 22. August 2019
«Wertschätzung ist für die Beziehung wie das Benzin fürs Auto»