Weshalb Menschen heute hungern müssen
Alle 13 Sekunden stirbt weltweit ein Kind an Hunger, jährlich verlieren rund zwei Millionen Kinder ihr Leben, bevor sie fünf Jahre alt sind, weil sie unter- oder mangelernährt sind. Auf diese erschreckenden Fakten weisen das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (Heks) und Fastenaktion in der diesjährigen ökumenischen Fastenkampagne hin. Nachdem es in den ersten 15 Jahren dieses Jahrtausends noch gelungen ist, den Anteil hungernder Menschen weltweit beinahe zu halbieren, nimmt der Hunger seit 2015 langsam wieder zu. Wo liegt das Problem?
Kriege, Klimawandel und Covid
«Der Grund liegt in einer unglücklichen Ansammlung verschiedener Ursachen», sagt Ruth Delzeit, die an der Heks-Kampagne nicht beteiligt ist. Die Professorin für globale und regionale Landnutzungsänderungen an der Universität Basel ist auf Modelle zur Ernährungssicherheit spezialisiert. Eine Ursache seien Kriege, die verhinderten, dass Bauern ihre Felder bestellen könnten. «Und bei bewaffneten Konflikten kommt die Lebensmittelhilfe nicht an, weil die Gefahr für NGOs zu gross ist. Im Jemen zum Beispiel.»

Anteil hungernder Menschen an der Weltbevölkerung. | Quelle: Welternährungsprogramm der UNO.
Als weitere Ursachen nennt Delzeit die gesteigerte Nachfrage nach Lebensmitteln aufgrund des Bevölkerungswachstums und des gewandelten Konsumverhaltens. Covid habe die Krise verschärft, weil dadurch Lieferketten unterbrochen worden seien. Und schliesslich führe der Klimawandel tendenziell zu sinkenden Erträgen.
Mehrere Studien haben gezeigt, dass es für die Biodiversität grundsätzlich besser ist, auf weniger Fläche intensiv zu produzieren, als mehr Fläche schonend zu bewirtschaften.
Den Klimawandel macht auch die Fastenkampagne für den Welthunger verantwortlich. Man schätze, dass deswegen die Zahl der Hungernden bis 2050 um zusätzliche 20 Prozent steigt, so das Heks. Delzeit hält diese Zahl für plausibel. Allerdings differenziert sie: «Manche Regionen profitieren auch davon, in Subsahara-Afrika zum Beispiel.» Global gesehen würden die Erträge wegen des Klimawandels aber eher sinken. «Damit werden wahrscheinlich die Preise steigen, und ein noch grösserer Anteil des Kuchens wird an reichere Länder gehen – auch an wirtschaftlich wachsende Länder wie Indien und China.» Armen Ländern, die stark von Hunger betroffen seien, bleibe dann noch weniger.
Computer berechnet optimalen Zeitpunkt für Aussaat
Forscherkollegen von Ruth Delzeit haben ein Modell entwickelt, das Landwirten hilft, die Bewirtschaftung des Bodens an den Klimawandel anzupassen: «Man kann verschiedene Klimaszenarien eingeben – Temperatur, Niederschlag, Bodenbeschaffenheit etc. –, und das Modell schlägt geeignete Nutzpflanzen vor. So können Bauern vor Ort das Modell für ihre Situation adaptieren und zur Entscheidungsfindung nutzen. Es ist öffentlich zugänglich.» Im Südsudan beispielsweise habe es vorgeschlagen, den bis anhin verbreiteten Sesamanbau wegen des Klimawandels in Zukunft durch Mais und verschiedene Nusssorten zu ersetzen. «Das Modell schlägt auch einen geeigneten Zeitpunkt für die Aussaat vor und berechnet, ob es sich lohnen könnte, früher auszusäen und dafür zweimal pro Jahr zu ernten.»
Dass wirtschaftliche Abschottung nicht zu Ernährungssicherheit führt, kann man am Extrembeispiel Nordkorea beobachten.
Ähnliche Projekte verfolgt auch das Heks, um Bäuerinnen und Bauern darin zu unterstützen, sich an den Klimawandel anzupassen. In Kambodscha beispielsweise äussere er sich in unregelmässigeren Regenfällen. Dürren, Hitzewellen, aber auch Überschwemmungen seien die Folgen. Das Heks hilft den Bauern, Bewässerungssysteme anzulegen, welche die starken Niederschlagsschwankungen ausgleichen.

In Kambodscha hilft das HEKS Kleinbauern, sich dem Klimawandel anzupassen, und fördert Bewässerungssysteme, die Niederschlagsschwankungen auffangen können. | Quelle: Heks
Intensive Landwirtschaft ist auch positiv
Dabei setzt das Heks auf die Förderung von Kleinbauern und auf Agrarökologie. In der Kampagne macht es denn auch die industrielle Landwirtschaft für manche Misere verantwortlich. «Produziert wird in grossen Monokulturen mit Hightech-Saatgut, das von chemischen Düngemitteln und Pestiziden und intensiver Bewässerung abhängig ist», schreibt es in einer Mitteilung zur Kampagne. Das industrielle Modell lauge die Böden aus, führe zu Wasserknappheit und Artensterben.
Ruth Delzeit sieht das differenzierter: «Die industrielle Landwirtschaft ist nicht nur Fluch, sondern auch Segen», sagt sie. Denn dadurch liesse sich pro Flächeneinheit mehr produzieren. Würde darauf verzichtet, so müsste mehr Fläche bewirtschaftet werden, um die gleiche Menge an Nahrungsmitteln zu produzieren – zum Beispiel auf Kosten von Regenwald. «Mehrere Studien haben gezeigt, dass es für die Biodiversität grundsätzlich besser ist, auf weniger Fläche intensiv zu produzieren, als mehr Fläche schonend zu bewirtschaften.»

Was mit den weltweit durch die Landwirtschaft produzierten Kalorien geschieht. | Quelle: Heks
Fairer Freihandel hat Vorteile
Auch den Freihandel sieht Delzeit grundsätzlich positiv: «Die landwirtschaftlichen Erträge können stark schwanken. Handel hilft, das auszugleichen.» Dass eine wirtschaftliche Abschottung nicht zu Ernährungssicherheit führe, könne man am Extrembeispiel Nordkorea beobachten. Allerdings brauche es für Freihandel faire Bedingungen. «Und das ist im Moment nicht der Fall.» Europäische Länder zum Beispiel – darunter auch die Schweiz – exportieren die eigenen stark subventionierten und dadurch verbilligten Produkte, was Produzenten in Afrika vom Markt dränge. Zudem müsse die Spekulation auf Nahrungsmittelpreise verhindert werden. «Diese hat in der Finanzkrise von 2008 zu einem Anstieg der Grundnahrungsmittelpreise geführt.» Mit dem Resultat, dass ärmere Menschen sich Grundnahrungsmittel kaum noch leisten konnten.
300 Gramm Fleisch pro Woche
Grosses Potenzial sieht Ruth Delzeit in einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. Denn die Nachfrage nach Nahrungsmitteln steige nicht nur wegen des Bevölkerungswachstums, sondern vor allem auch, weil Lebensmittel für die Tierfütterung benötigt würden, um Fleisch, Milch, Käse und Eier zu produzieren. «Man könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn man sich ausgewogener ernähren würde.» In der Schweiz etwa wären das dann anstelle von wöchentlich knapp einem Kilo Fleisch pro Kopf noch etwa 300 Gramm. «Das trägt zur Ernährungssicherheit bei, schont die Umwelt und ist erst noch gesünder», so Ruth Delzeit.
Ökumenische Fastenkampagne 2025
Am 5. März startet die diesjährige ökumenische Fastenkampagne von Heks und Fastenaktion. Diese markiert den Beginn eines dreijährigen Zyklus, der sich mit den Ursachen und Folgen von Hunger beschäftigt. Die Kampagne 2025 trägt den Titel «Hunger frisst Zukunft!». Sie will aufzeigen, dass Hunger und Unterernährung keine unüberwindbaren, natürlichen Phänomene sind, sondern durch menschliches Handeln entstehen und die Zukunftsaussichten ganzer Gemeinschaften im Globalen Süden bedrohen.
Weshalb Menschen heute hungern müssen