Wie es sich lebte im Heiligen Land
Jesus, König der Könige, Herrscher über die Welt. Kraftvoller Verkünder und Anführer einer Befreiungsbewegung. Gottgleicher, entrückter und siegreicher Religionsheld. So das überlieferte Bild – bei dem man glatt vergisst, dass Jesus von Nazaret als Mensch gelebt und gelitten, gegessen und getrunken, geliebt und gestritten hat. In einem zeitlichen, sozialen und kulturellen Umfeld, das sich von dem unseren so sehr unterscheidet, dass es heute oft schwerfällt, die Worte und Gleichnisse des Verkünders und Wanderpredigers so zu verstehen, wie sie von seinen Zeitgenossen verstanden wurden.
Um sich Jesus und seiner Botschaft zu nähern, ist es also hilfreich, in seine Zeit einzutauchen. Ja, wie lebte Jesus eigentlich, was gibt es zu seiner Epoche, seinem Land, den damaligen Herrschafts- und Religionsverhältnissen zu sagen? Zum Alltag, zum Wohnen, zur Arbeitswelt, zur Küche?
Bescheidenes Leben
Hierzu ist schon einiges geschrieben worden. Der in Sursee tätige katholische Priester und Bibelwissenschaftler Walter Bühlmann legt mit seinem Buch «Wie Jesus lebte» nun ein Buch vor, das neueste Erkenntnisse berücksichtigt und die Zeit Jesu in Wort und Bild so darstellt, dass auch ein religiös und historisch nicht vorgebildetes Publikum ohne Weiteres folgen kann. «Durch vielseitige Arbeiten über die damalige Wohnkultur und die Lebensgewohnheiten in Palästina, über Sitten und Gebräuche hat die Bibel ein neues Gesicht bekommen», erklärt Bühlmann in seinem Vorwort. Aus diesem Grund habe das Interesse an biblischen Realien in den letzten Jahrzehnten zugenommen.
Zunächst einmal: Jesus lebte, obwohl die Bibel seine Stammlinie auf König David zurückführt, in bescheidenen Verhältnissen, in der Welt von Fischern, Kleinbauern und Handwerkern in der damals römischen Provinz Galiläa am See Gennesaret. Ob er, wie die Bibel berichtet, tatsächlich in Bethlehem geboren wurde oder nicht doch eher in seinem Heimatort Nazaret? Das muss offen bleiben. Wie so vieles, das man sich über ihn berichtet und zu wissen glaubt. Denn die einzigen schriftlichen Berichte sind die Evangelien, und bei diesen handelt es sich nicht um historische Biografien, sondern auch – und vor allem – um Zeugnisse des Glaubens.
Die Krippe als Wiege
Und doch: Vieles, was in den Evangelien überliefert ist und uns heute zum Teil fremd anmutet, hat einen realen Hintergrund, der sich historisch nachzeichnen lässt, auch mit den Mitteln der Archäologie. Ein Beispiel: Dass Maria und Josef in der Weihnachtsgeschichte mit einem Stall als Unterkunft vorliebnehmen mussten, wird heute als unzumutbar empfunden. Dabei lebten die Kleinbauern dieser Gegend nicht selten in Häusern, in denen der Raum für die Tiere kaum oder höchstens durch einen kleinen Absatz vom Ess- und Schlafbereich der Menschen abgetrennt war. Und dass man die Säuglinge gleich in die Futterkrippe bettete, zumindest tagsüber, wenn sich das Vieh auf der Weide aufhielt, war nicht ungewöhnlich. Manche dieser Häuser waren an natürliche Felshöhlen angebaut; die Verehrung von Jesu Geburtshöhle in Bethlehem basiert also nicht auf einer reinen Fantasievorstellung.
Göttliche Konkurrenz
Apropos Höhle: Laut persischer Mythologie kam auch der Gott Mithras in einer Höhle zur Welt. Walter Bühlmann schildert in seinem Buch, wie die biblischen Weisen aus dem Morgenland, die dem neugeborenen Jesus ihre Aufwartung machten, symbolisch umgedeutet wurden. So fällt auf, dass die «drei Könige» beziehungsweise «Magier» aus dem Osten auf frühen Darstellungen das Habit der Mithraspriester tragen. Der Kult des Gottes Mithras war zu jener Zeit, als das Christentum Staatsreligion im römischen Reich wurde, in der Bevölkerung äusserst populär. Und nun sollte am 25. Dezember auf kaiserliches Geheiss plötzlich nicht mehr die Geburt Mithras’, sondern jene des Predigers aus Galiläa gefeiert werden. Die bildlichen Darstellungen der drei Magier aus dem Morgenland hatten eine klare Botschaft: Seht her, liebe heidnische Mitbürger, sogar eure Mithraspriester kommen, um Jesus zu verehren. Mithras ist tot, es lebe Jesus Christus.
Frische Fische aus dem See
Wie gesagt – das Buch von Walter Bühlmann enthüllt nichts, was in anderen Jesus-Biografien nicht auch zu lesen wäre, und es zeichnet auch kein vollkommen neues Bild des Protagonisten. Aber es zoomt das tägliche Leben der damaligen Zeit so nahe heran, dass es plötzlich greifbar wird. Man glaubt den Duft des erntereifen Korns auf den galiläischen Feldern fast zu riechen, hört die Rufe der Bauhandwerker in Sepphoris, der Metropole in der Nähe von Nazaret, sieht, wie sich die Wellen des Sees Gennesaret im frischen Wind kräuseln. Jenes Sees, an dessen Ufern Jesus wirkte und der Lebensgrundlage war für die Fischer, die sich um Jesus scharten.
Nach der Lektüre des Buches wissen wir auch, welche Fische es vermutlich waren, mit denen Jesus seine hungrigen Zuhörer bei der wundersamen Fisch- und Brotvermehrung speiste: Petrusfisch, Barbe und Kinneret-Sardine. Nicht aber der schuppenlose Raubwels, der im See Gennesaret ebenfalls vorkommt – denn schuppenlose Fische zu verspeisen, ist den gläubigen Juden verboten. Und Jesus sowie seine Anhängerschaft waren gläubige Juden, daran lässt das Buch keinen Zweifel. Was heute unbestritten ist, aber noch vor vier, fünf Jahrzehnten in der Christenheit alles andere als Gemeingut war.
Hans Herrmann, reformiert., 16. August 2017
Walter Bühlmann, Wie Jesus lebte, Rex-Verlag, ca. 150 Seiten, mit zahlreichen Illustrationen. ISBN 978-3-7252-1011-4. Der Autor ist Priester in Sursee sowie emeritierter Lehr- und Forschungsbeauftragter für Bibelwissenschaft und Verkündigung an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
Wie es sich lebte im Heiligen Land