Wie stehe ich zu meinen eigenen Bedürfnissen?
Unsere Kolumne zu alltäglichen Lebensfragen. Haben Sie Fragen? Schreiben Sie Ihr Anliegen an die Redaktion, wir werden es gerne weiterleiten. redaktion@kirchenbote.ch
Liebe Leserin
Ihr grosses Verantwortungsgefühl und die damit verbundenen Schuldgefühle und die Erfahrung, sich selber in einer Beziehung zu verlieren, zeigen, dass Ihr Fokus mehr auf den Bedürfnissen anderer liegt und Sie das eigene Wohl zurückstellen. Eine Beziehung kann jedoch nur dann gelingen, wenn Sie Ihre Bedürfnisse als genauso wertvoll und berechtigt erachten wie diejenigen der anderen.
Es hängt mit unseren früheren Beziehungserfahrungen zusammen, ob wir unseren Blick eher auf das eigene Wohl oder dasjenige der anderen richten. Häufig können Menschen, die bereits früh gelernt haben, für andere verantwortlich zu sein, nur dann wirklich gut auf sich schauen, wenn sie alleine sind. Bereits das Äussern oder Erahnen von Bedürfnissen anderer kann dazu führen, dass sie sich danach richten. Häufig wird dann in der Trennung die einzige Lösung gesehen, wieder sich selbst zu sein. Mit der Zeit wächst jedoch erneut die Sehnsucht nach Verbundenheit und Nähe.
Damit Sie in einer neuen Beziehung sich selbst bleiben können, ist es wichtig, sich mit seinen früheren Beziehungserfahrungen auseinanderzusetzen. Wie haben meine Eltern und andere auf mein Bedürfnis nach Nähe, Trost, Fürsorge und meine verletzlichen Gefühle reagiert? Wie sind sie mit meiner Wut umgegangen? Durfte ich mich selbst sein? Welche Rolle hatte ich in meiner Familie? War ich für das Wohlergehen anderer verantwortlich? Wurde ich für mein gutes Einfühlungsvermögen und meine hilfsbereite Art sehr gelobt?
Auch die Partnerwahl kann bereits durch unsere früheren Beziehungserfahrungen beeinflusst werden. Wenn das Selbstwertgefühl vorwiegend dadurch bestärkt wurde, anderen beizustehen, oder wenn man die Erfahrung gemacht hat, die Zuwendung zu verlieren oder bestraft zu werden, wenn man auf seine eigenen Bedürfnisse schaut, dann kann es sein, dass man unbewusst nur Beziehungen mit hilfebedürftigen oder stark selbstbezogenen Personen eingeht. In einer solchen Beziehungen ist es jedoch fast unmöglich, sich selbst zu entfalten. *
Es lohnt sich, seine Anliegen mutig zu äussern und für sie einzustehen, statt gegen die Bedürfnisse desanderen zu kämpfen oder (vergeblich) zu warten, dass die eigenen Bedürfnisse unausgesprochen erfüllt werden. Häufig werden solche offenen Gespräche jedoch aus Angst, die Beziehung zu gefährden, vermieden. Es sind jedoch diese «unharmonischen» Auseinandersetzungen, die in einer Beziehung langfristig Nähe und Verbundenheit sichern.
* Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung des Beitrags hatte sich ein Fehler eingeschlichen. Es hiess irrtümlich «In einer solchen Beziehung kann man sich selbst entfalten». Richtig muss es heissen «In einer solchen Beziehungen ist es jedoch fast unmöglich, sich selbst zu entfalten.»
Wie stehe ich zu meinen eigenen Bedürfnissen?