Wie viel Bibel steckt in den Menschenrechten?
Es war ein feierlicher Moment als im Pariser Palais de Chaillot vor 70 Jahre die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» verabschiedet wurde. Schon damals fragte man nach der Geburtsurkunde dieser Erklärung und bis heute ist die Frage nicht verstummt: Sind die Menschenrechte ein Produkt des Westens, das tief im christlichen Weltbild fusst?
Aufklärung oder Christentum?
Diese Frage nach den geistigen Vätern und Müttern haben die Parteipräsidenten der SP und CVP, Christian Levrat und Gerhard Pfister, vor zwei Jahren ausgefochten. Für die Aufklärung spricht, dass die Menschenrechte in der Kirche bis ins 20. Jahrhundert hinein einen schweren Stand hatten. Für das Christentum spricht die verblüffende Parallele zu der schon in der Bibel postulierten Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott.
Jüngst war der Libanese Habib Malik in Zürich zu Besuch bei Christian Solidarity International. Er ist der Sohn von Charles Malik, der 1947 und 1948 an der Abfassung der Menschenrechte entscheidend mitwirkte. Für Habib Malik ist klar, dass die christlichen Überzeugungen seines griechisch-orthodoxen Vaters in die Menschenrechtserklärung eingeflossen sind.
Aber die Autorenkommission, die zwischen 1946 und 1948 die Deklaration abfasste, war von vornherein ganz unterschiedlichen Weltbildern verpflichtet. Mit der personell so unterschiedlichen Zusammensetzung prallten da die Konzepte eines französischen Juden, chinesischen Konfuzianers oder eines indischen Hindus wie auch eines marxistischen Sowjetrussen aufeinander.
Rechte von Gott gegeben?
Charles Malik wiederum ging als Christ von der Grundidee aus, universale Rechte kann nur Gott geben. Das war schon bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung so. Da hatte Thomas Jefferson formuliert, dass alle Menschen «von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind». Und so wollte auch Malik im ersten Artikel festhalten, dass die Menschen «mit Vernunft und Gewissen geschaffen» seien. Aber das Wörtchen «geschaffen» setzt einen Schöpfergott voraus, was den russischen Kommissionsmitgliedern nicht entgangen ist. Sie legten ihr Veto ein. Heute heisst der berühmte erste Artikel so: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.»
Wenn es auch aus christlicher Perspektive nahe liegt, von der in der Schöpfungsgeschichte postulierten Gottesebenbildlichkeit des Menschen auf die Menschenwürde zu schliessen, warnt Christoph Ammann vor einer Engführung der Menschenrechte. «Die Pointe der Menschenrechte ist ohne Zweifel ihre universale Geltung», sagt der langjährige Mitarbeiter des Instituts für Sozialethik Zürich und heutige Pfarrer in Zürich-Witikon. Und das Postulieren der Menschenrechte entfalte in jeder historischen Konstellation eine andere Wirkung, sagt Ammann weiter.
Politische Konjunkturen
Ein kleiner Streifzug durch die Geschichte der Menschenrechte von 1948 bis heute bestätigt dies. Schon ihre Lancierung war den Gräueln des Zweiten Weltkriegs geschuldet. Deutlich tritt dies auch bei dem Artikel 14 hervor, der politisch Verfolgten das Recht auf Asyl zuspricht.
Der einsetzende Kalte Krieg versetzte aber bis Ende der 1960er Jahre dem Menschenrechtsdiskurs einen schweren Dämpfer. In den 1970er Jahren entstanden dann aber Organisationen wie Amnesty International, wurde die Zivilgesellschaft mobilisiert, um den Diktaturen in Ost und West ihre Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Inhaftierungen, Folter und Todesstrafe vorzuhalten. Der christlich geprägte US-Präsident Jimmy Carter wollte die US-Aussenpolitik nach den Menschenrechten ausrichten. Der nicaraguanische Diktator Somoza bekam dies zu spüren, als keine US-Soldaten seine Herrschaft beim Volksaufstand 1978 der Sandinisten absichern wollten.
Unter Carters Präsidentschaftsnachfolger Ronald Reagan verkam dann der Menschenrechtsdiskurs zum Propaganda-Instrumentarium, beflügelte aber die osteuropäischen Dissidenten zum Widerstand gegen die repressiven Regierungen im Ostblock. Das Ende des Kalten Krieges mit dem Fall der Berliner Mauer und der Abschaffung der Apartheid ist dann der bis dahin grösste Triumph in der jungen Menschenrechtsgeschichte.
Konzernverantwortungsinitiative
Und heute? Sind die Menschenrechte nur lauter schöne Worte? Christoph Ammann erinnert daran, dass die Menschenrechte nie ein politischer Selbstläufer waren, sondern immer wieder neu gefüllt und verteidigt werden müssen. Heutzutage ist dies augenfällig, denkt man an Autokraten wie Putin in Russland, Erdogan in der Türkei, Duarte in den Philippinen oder an den neu gewählten brasilianischen Präsidenten Bolsonaro. Aber selbst in der Schweiz, so Ammann, sei es salonfähig geworden, die Menschenrechte zum Auslaufmodell zu deklarieren. Deshalb müssten die «unveräusserlichen Rechte des Individuums immer wieder neu als Vision nationaler und internationaler Politik stark gemacht werden, gerade auch von kirchlicher Seite». Erschreckt hat Ammann, dass jüngst der Chefredaktor der NZZ sich von der «Ära der Werte» und damit auch von einer Orientierung an den Menschenrechten verabschiedet hat.
Auf der anderen Seite wird in der Schweiz aktuell darum gerungen, ob die Menschenrechte auch in der Wirtschaft Leitplanken setzen sollen. Das will die Konzernverantwortungsinitiative. Mit ihr sollen die im Ausland tätigen Schweizer Konzerne gezwungen werden, die Menschenrechte und den Schutz der Umwelt ebenso zu respektieren wie in der Eidgenossenschaft. Noch ringt Bundesbern um einen Gegenvorschlag. So oder so kommt aber das Thema an die Urne.
Delf Bucher, reformiert.info, 10. Dezember 2018
Wie viel Bibel steckt in den Menschenrechten?