Frau Kassab, die evangelisch-reformierte Kirche und die katholische Kirche in der Schweiz verlieren Mitglieder. Brauchen wir keine Kirche mehr?
Doch, wir brauchen eine Kirche, die etwas bewirkt, die Freude macht und die Hoffnung gibt. Es wird immer eine Lücke im Leben der Menschen geben, die nur Gott füllen kann. Der Mitgliederschwund in den Kirchen ist ein Phänomen, das mit der Frage zusammenhängt, welche Art von Kirche wir brauchen. Ich denke, die Menschen wollen eine Kirche, die ihre täglichen Fragen und Sorgen ernst nimmt, die ihnen in ihrem Schmerz und in ihrem täglichen Kampf hilft.
Trotz vieler Krisen in der Welt leben wir in der Schweiz immer noch fast im Paradies. Hat dies Ihrer Meinung nach Auswirkungen auf den Stellenwert der Kirche und des Glaubens?
In der Schweiz haben die Menschen alle Möglichkeiten, ein würdiges Leben zu führen. Aber es bleibt dabei trotzdem immer noch die Frage nach dem Sinn des Lebens, mit der viele Menschen kämpfen – auch in der Schweiz. Die Kirche kann helfen, Antworten zu finden. Auch wenn für alles gesorgt ist, erleben Menschen oft eine Leere und brauchen den Glauben, um ganzheitlich leben zu können.
Wie sollte die Kirche Ihrer Meinung nach reagieren, wenn sich immer mehr Menschen von ihr abwenden?
Die Kirche ist aufgerufen, sich zu fragen, warum dies geschieht. Sie muss den Mut haben, zu reflektieren, ob und wie sie die Menschen erreicht. Wie wirkungsvoll geben wir unsere Botschaft weiter? Beantworten wir die Fragen der Menschen? Laden wir sie ein, einen Dienst in der Kirche zu übernehmen oder sind sie nur Gäste?
In Ihrer Begrüssungsansprache an die Synode sagten Sie: «Wir brauchen eine wirksame Kirche.» Was ist für Sie eine wirksame Kirche?
Eine Kirche, die regelmässig prüft, wer im Leben der Kirche am Rande steht. Die Kirche soll nicht nur für die Fremden um uns herum gastfreundlich sein, sondern auch für diejenigen, die sich inmitten der Gemeinschaft des Glaubens fremd fühlen.
Was kann und soll die Kirche in Zeiten der Krise tun?
Sie ist dazu aufgerufen, alle ihre Ressourcen für die Würde der Menschen einzusetzen. Sie hilft, als starke Gemeinschaft zusammenzukommen im Vertrauen darauf, dass Gott die Quelle der Kraft bleibt, und dass der Schmerz nicht das letzte Wort hat. Nicht Tod, sondern Auferstehung. Die Konzentration auf die Auferstehung ist das, was die Kirche zu einer hoffnungsvollen Kirche macht.
Wie erleben Sie die Situation der Kirche in Ihrem Heimatland Libanon?
Die Kirche im Libanon hat mit vielen Krisen zu kämpfen. Die Wirtschaftskrise, die durch Covid ausgelöst wurde, hat das Leben der Menschen erschüttert und sie in Armut, Instabilität und Unsicherheit über die Zukunft gestürzt. Für mich ist die Kirche im Libanon eine Kirche am Kreuz und im Schmerz.
Die Frauen in den Kirchen waren auch ein Thema in Ihrem Grusswort. Warum ist es notwendig, Frauen in den Kirchen zu stärken, wie Sie sagen?
Frauen sind Schlüsselpersonen in den Kirchen. Eine grosse Zahl von ihnen nimmt am kirchlichen Leben teil, oft sogar eine Mehrheit von Frauen. Dennoch werden ihnen oft keine Führungsaufgaben übertragen, und in einigen Kirchen wird ihnen die Ordination verweigert. Wenn wir eine gesunde und zukunftsfähige Kirche haben wollen, müssen wir Frauen dazu einladen, ihre Talente auf allen Ebenen einzusetzen.
Viele Menschen sind besorgt über die Zukunft oder haben sogar Angst vor ihr. Was können Sie ihnen als Pastorin mitgeben?
Die frühen Kirchen hatten auf ihrem ganzen Weg Angst und standen vor Herausforderungen. Wir müssen darauf vertrauen, dass Gott mit uns ist. Und wir müssen uns auf unseren Auftrag fokussieren, den Christus für uns vorgesehen hat.
«Wir brauchen eine Kirche, die Hoffnung gibt»