«Wir brechen unser Gesetz, setzen Grundrechte aufs Spiel.»
Die Situation auf Lesbos ist dramatisch. Wie beurteilen Sie den Willen der europäischen Länder, eine Lösung für das Flüchtlingsdrama zu finden, das sich auf der Insel abspielt?
Die Bereitschaft ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. In Ländern wie Deutschland, wo Politiker verschiedenster Parteien das Flüchtlingslager besucht haben und die katastrophalen Zustände kennen, ist man sich schnell einig, dass Handlungsbedarf besteht. Dort haben die Medien viel über Einzelschicksale berichtet, das verändert sofort die politische Debatte. In Ländern, wo die Medien nur wenig aus Lesbos berichteten, etwa nur Bilder über Gewalt im Lager zeigten, ist die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen weniger gross.
In der Schweiz heisst es, verschiedene Städte würden gerne Flüchtlinge aufnehmen, aber das Amt für Migration bremse.
Es ist ehrlich gesagt momentan schwer, Regierungen fair zu beurteilen. Denn die griechische Regierung müsste als Grundvoraussetzung Hilfe annehmen, das ist derzeit nicht der Fall.
Woran liegt das?
Grundsätzlich muss man sagen: Die Situation auf den griechischen Inseln ist durch nichts zu rechtfertigen. Hier werden Menschen als Mittel zum Zweck verwendet, sie leiden auf einem der reichsten Kontinente der Welt in einem Land, das unglaublich viel Hilfe von der EU bekommen hat.
Aber?
Die griechische Regierung und weite Teile der Bevölkerung haben Angst, mit der Situation allein gelassen zu werden. Im März 2016 war es mit Ausnahme von Deutschland und Griechenland Konsens in der EU, dass man die Flüchtlingskrise beendet, indem man einen Zaun an der griechischen Grenze baut. Man hat also nicht Migration in die EU verhindert, sondern aus einem EU-Land heraus. Dann wurden, allerdings nur bis September 2017 20 000 Schutzsuchende vom griechischen Festland in der EU verteilt. Doch das ist vorbei, obwohl im Herbst 2019 wieder mehr Flüchtlinge auf den Inseln ankamen. Die Angst der Griechen ist, dass es nicht gelingt, eine neue Einigung mit der Türkei zu finden und dass die Zahl der Menschen, die in Boote steigen, jederzeit wieder sprunghaft ansteigen kann. Das erklärt die harsche Politik an der Grenze mit Booten, die illegal zurückgeschickt werden. Und warum sich an den schlechten Bedingungen im Flüchtlingslager seit langem nichts ändert.
Produziert Griechenland die Schreckensbilder also absichtlich, weil man befürchtet, dass sonst noch mehr Flüchtlinge nachkommen?
Es ist eine Politik der Abschreckung. Die Zustände auf den Inseln, die der Europäischen Menschenrechtskonvention widersprechen, signalisieren, dass es besser ist, nicht nach Europa zu kommen. Mussten Asylsuchende dort in den ersten Jahren durchschnittlich vier Monate warten, sind die meisten heute über ein Jahr dort. Hilfsangebote, etwa die Evakuierung von Lesbos direkt nach Deutschland, ist dann aus Sicht Athens kontraproduktiv, wenn es dazu führen könnte, dass dann mehr Menschen kommen.
Auch das Zurückschicken von Booten ist nicht erlaubt. Werfen wir gerade unsere christlichen Werte über Bord?
Ja, und nicht nur das: Wir brechen unser Gesetz, wir setzen Grundrechte aufs Spiel. Es geht um Fragen der politischen Moral und einen Zustand der Rechtlosigkeit.
Nächstes Jahr feiert die Flüchtlingskonvention 70. Jahrestag. Wird sie vorher noch zum Papiertiger?
Es ist nicht einmal mehr fünf vor zwölf. Was wir hier im reichsten Kontinent der Welt sehen, an der ungarisch-serbischen Grenze, der kroatisch-bosnischen Grenze und der griechisch-türkischen Grenze ist eine offene Verletzung der Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen. Wir brauchen dringend Konzepte, die mehrheitsfähig und umsetzbar sind, um diese zu schützen.
Was wäre ein gangbarer Weg?
Die Inseln hätte man schon vor sechs Monaten evakuieren müssen. Das muss jetzt passieren. Dann geht es darum, wieder eine Einigung mit der Türkei zu finden.
Das Türkei-Griechenland-Abkommen war doch schon 2016 umstritten.
Ja, es gab Kritik von extrem rechten Skeptikern bis hin zu renommierten Menschenrechtsorganisationen. Die Rechten haben kritisiert, dass Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufgenommen wurden, Menschenrechtler befürchteten eine Gefahr für das Asylrecht. Tatsächlich ist in der EU-Türkei Erklärung das Recht auf Asyl explizit bewahrt. Die unhaltbaren Zustände auf den Inseln sind das Ergebnis fehlenden Willens, Gesetze umzusetzen. Seit März gibt es keine Erklärung mehr, die Türkei nimmt keine Flüchtlinge zurück, die Situation hat sich nur massiv verschärft. Eine Neuauflage des Abkommens, mit dem Willen es ernsthaft umzusetzen, ist wohl die realistische Alternative zur gegenwärtigen Abschreckungspolitik, die Regierungen unterstützen würden.
Kritiker bemängeln, Europa mache sich von der Türkei abhängig. Und die Türkei habe Ihren Teil der Abmachung nicht ausreichend erfüllt.
Die Türkei ging 2016 davon aus, dass die 6 Milliarden Euro Flüchtlingshilfe für vier Jahre gedacht waren. Tatsächlich wollte die EU das Geld auf zehn Jahre strecken und sprach nicht mehr über weitere Hilfe. Dabei ist es im Interesse aller, die Türkei bei der Versorgung und Integration von Flüchtlingen weiterhin finanziell zu unterstützen.
Wo braucht es sonst noch Nachbesserungen?
Wenn wir den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ernst nehmen wollen brauchen wir einen Mechanismus, um zu überprüfen, was mit jenen passiert, die in die Türkei zurückgeschickt werden. Das ist auch wichtig für Asylbeamte in Griechenland. Doch bevor es eine neue Einigung gibt, braucht es einen neuen Stichtag. Moria muss geschlossen werden und die 26 000, die heute auf den Inseln sind, müssen sofort human untergebracht werden. Das geht nicht auf den Inseln. Dann braucht es mit EU-Recht kompatible humane Aufnahmeeinrichtungen und faire Asylverfahren, die nicht länger als acht Wochen dauern. Da wird dann die Schweiz interessant.
Warum?
In der Schweiz gibt es Erfahrungen mit schnelleren Asylverfahren ohne deren Qualität zu vermindern.
Auch die Seenotrettung war wieder vermehrt in den Schlagzeilen. Unter anderem die Sea-Watch 4, die von den Kirchen mitfinanziert wird. Wie beurteilen Sie die Situation auf dem Mittelmeer?
Auch im zentralen Mittelmeer wurde, obwohl wenige kommen, kein Problem gelöst. Dabei sind die grösste Zahl derer, die derzeit aus Nordafrika kommen, Tunesier, Algerier, Marokkaner. Sehr wenige von Ihnen haben in der EU eine Chance auf Asyl.
Woran liegt das?
Es ist immer schwerer aus Libyen heraus in internationale Gewässer zu kommen. Die libysche Küstenwache bringt viele zurück, was wiederum andere entmutigt. Dabei verfolgt die EU eine mehr als dubiose Zusammenarbeit mit den libyschen Institutionen. Diese Zusammenarbeit wird allerdings, mangels alternativer Konzepte, etwa in Italien von einem breiten politischen Konsens getragen.
«Reformiert.»-Redaktorin Constanze Broelemann war auf der Sea Watch unterwegs. Flüchtlinge berichteten ihr von Misshandlungen in libyschen Flüchtlingslagern. Es heisst auch, die libysche Küstenwache arbeite mit Schleppern zusammen. Mitfinanziert wird sie gar noch von der EU.
Das ist den Verantwortlichen in der EU seit Jahren bekannt. Auch dass die Zustände in den libyschen Lagern, wo gar gefoltert wird, nicht in Einklang mit der Flüchtlingskonvention stehen. Es braucht eine alternative Form der Kontrolle im Mittelmeer, die nicht darauf beruht, Seenotretter zu behindern oder mit libyschen Milizen zusammenzuarbeiten.
Kritiker der Seenotrettung sagen, sie biete einen Anreiz für die Fahrt nach Europa.
Die Wirklichkeit ist komplizierter. In 2016 wurden 181 000 Menschen mit aus Rom koordinierten Schiffen aus dem Mittelmeer gerettet. Aber es ertranken damals auch 4600 Menschen, die höchste Zahl je in einem Jahr. Das heisst nicht, dass wir nicht retten sollen. Die Seenotrettung ist eine Pflicht. Aber sie führt nicht alleine zu weniger Toten. Entscheidend ist, dass man wenig Anreize setzt, dass viele nach Libyen kommen und überhaupt in Boote steigen. Im Einklang mit dem Asylrecht und der Menschenwürde heisst das schnelle Verfahren und ein zügiges Zurückschicken derer, die keinen Schutz bekommen, in sichere Transitländer oder noch besser in ihre Herkunftsstaaten. So machen sich diese Menschen nicht erst auf den Weg. Wir müssen Tote verhindern, nicht nur durch die Seenotrettung, sondern auch durch eine Asylpolitik, die nicht unsere Werte und Gesetze bricht.
Wie beurteilen Sie das Engagement der Kirche im Mittelmeer?
Das Engagement der Zivilgesellschaft und der Kirchen ist sehr wichtig und in Ländern wie Deutschland sehr positiv. In Demokratien ist es wichtig, auch für Politiker, zu sehen, wie sich Gruppen positionieren. Politiker richten ihr Handeln nach der Gesellschaft aus. Es ist eine enorme Leistung der Zivilgesellschaft, ein Rettungsschiff ins Meer zu bringen. Aber am Ende, so bewundernswert diese Aktionen sind, ersetzen sie keine Politik, und brauchen immer auch die Unterstützung von Staaten, allein um Flüchtlinge in einen Hafen zu bringen. Letztlich braucht eine Politik die Unterstützung von gewählten Regierungen und damit von Mehrheiten.
Was kann die Kirche hier bewegen?
Das Engagement der Kirche bietet Gelegenheit zu einem Dialog, wie man etwa im Mittelmeer in Zukunft Tote verhindern kann. Sie könnte sagen, wir müssen das Leid und Sterben reduzieren, sind aber offen, wie man das erreicht. Klar ist, dass gewisse Dinge nicht in Frage kommen: Menschen als Mittel zu verwenden, um andere vom Seeweg abzuschrecken, eine Zusammenarbeit mit Milizen, die foltern. Die Voraussetzung für diesen Dialog ist Empathie.
Warum polarisiert das Thema so stark?
Weil es in der Debatte auch um starke Gefühle geht: um Empathie und Angst. Sagt jemand, wir lassen Menschen ertrinken, ist das schlicht unmenschlich. Offene Grenzen und eine Politik ohne Kontrolle verunsichern aber auch viele und sind nicht mehrheitsfähig. Und wenn die Debatte auf die Wahl zwischen geschlossenen und offenen Grenzen reduziert wird, werden jene, die abschrecken wollen, sich durchsetzen. Humane Grenzen verlangen sowohl Kontrolle wie Empathie.
Interview: Cornelia Krause, reformiert.info
«Wir brechen unser Gesetz, setzen Grundrechte aufs Spiel.»