«Wir hatten so viele Pläne»
Die Frauen sitzen zusammen und singen innig. Die Lieder ihrer Heimat begleiten Bilder von zerbombten Mietblocks in der Ukraine. Zum Teil raucht und brennt es noch. Und hier und da legt die zerstörte Fassade fast intakte Möblierungen frei.
Verlorene Träume
«Wir hatten so viele Pläne, ein kleines Haus, einen Hund», sagt Kseniia Karandashova, die im Dezember 2022 mit der kleinen Tochter von Charkiw ins rumänische Cluj-Napoca flüchtete.
Von diesem Traum ist sie heute weit weg. «Verschliesst eure Augen nicht, don’t close your eyes», sagt sie. «Was sollen wir tun? Weglaufen? Wohin? Nach Australien? Auf den Mond?»
Herzzerreissend ist die Szene, als sie per Videocall mit ihrem Mann an der Front spricht, beide geben sich zuversichtlich. Danach meint sie unter Tränen: «Wir sitzen hier im Trockenen und unsere Jungs – diejenigen, die noch am Leben sind – liegen bei null Grad draussen auf dem Boden.»
Im Innersten erschüttert
Als Schwimmtrainerin hat Karandashova rasch eine Anstellung in Cluj gefunden. Darum ist sie froh über die ukrainische Tagesstätte, die eine Schicksalsgefährtin in den Räumen der reformierten Kirchgemeinde eingerichtet hat.
In der Kita begrüssen sich die beiden Frauen herzlich. Olena Shevchenko hat mit Unterstützung des Heks die Tagesstätte «Be brave kids» auf die Beine gestellt, damit die Mütter arbeiten oder einen Sprachunterricht besuchen können.
«Ich dachte wir kommen für zwei, drei Monate», sagt sie. Doch sie weiss, dass es noch lange dauern kann. In der Kita wird sie von einer Psychologin beraten. Das schätzt sie sehr. Auch für sich selber.
Früher arbeitete die junge Frau in einer Werbeagentur in Kiew. Jetzt sagt sie: «Der Krieg erschüttert das Innerste. Ihr wisst es nicht. Ich wünsche, dass ihr es nie erfahren müsst.»
Selbsthilfe im Zentrum
Auch Emanuel Tapu, Landesdirektor von Heks in Rumänien, ringt vor der Kamera um Fassung. «Sie haben alles verloren. Es ist kompliziert, das zu erklären», meint er und stockt. Um dann anzufügen: «Sie müssen und wollen vorwärtsgehen. Ihr Wille berührt mich. Wir müssen sie dabei unterstützen.»
Die sechs im Film vorgestellten Projekte – drei im rumänischen Cluj-Napoca, drei in Transkarpatien im Westen der Ukraine – sind nur ein kleiner Teil des Heks-Programms in der Region.
Was sie gemeinsam haben, ist ein neuer Arbeitsansatz: Survivor and Community-Led Response (SCLR) heisst dieser. Es werden kleine finanzielle Beiträge geleistet an Initiativen, die betroffene Menschen selbst entwickeln und tragen.
Der Film «Don’t close your eyes – Gemeinsam Frieden finden» (Regie Rahel Grunder) wird im September und Oktober im Rahmen des Heks-Lunchkinos in verschiedenen Städten gezeigt. Ab 1. Oktober kann er für Vorführungen gemietet werden. www.heks.ch/lunchkino
Wenig für viel Wirkung
«Am Anfang hatte mein Kind hier kaum soziale Kontakte», erzählt Olena Lyubchenko in Cluj. Die Kinder und Jugendlichen seien aus ihrem normalen Leben gerissen worden. Getrennt von Kolleginnen, Vätern, Grosseltern bräuchten sie gerade jetzt Freundschaften. Die Tanzlehrerin aus Mykolajiw bietet für sie nun Hiphop-Stunden an. Nach dem Training sitzen die «Ukrainian Dancers», wie sie ihre Shirts auszeichnen, noch zusammen, plaudern, spielen, schauen Filme.
Der finanzielle Aufwand für das Heks war nicht gross. Musikboxen, ein Staubsauger, danach noch ein Projektor.
Zwischen Trauer und Hoffnung
Trotz aller Trauer scheint im Film immer auch Hoffnung auf: Lyubchenko etwa konnte mit ihrer Gruppe an der rumänischen Hip-Hop-Meisterschaft teilnehmen. «Das war ein Hauch frischer Luft.»
In die Zukunft schauen will auch die Informatikerin Olga Semernikova. Sie gibt Unterricht für geflüchtete Kinder im Programmieren und 3D-Modelling. Für ihre Tochter und ihren Sohn will sie keine Mutter sein, «die weint und klagt, sondern eine, die etwas tun kann». Manchmal habe sie unbegrenzte Energie, manchmal falle sie in einen Abgrund. «Dann muss ich wieder auftanken.»
Ein paar Gartenwerkzeuge
Die Filmreise geht weiter in die Westukraine. Mihály Tominec von der Reformierten Kirche in Transkarpatien koordiniert die 20 Selbsthilfeprojekte, die dort derzeit im Rahmen des SCLR-Programmes-Projekte des Heks laufen. In die zuvor schon arme Gegend sind je nach Quelle 150'000 bis fast 400'000 Menschen aus kriegsumkämpften Regionen im Land geflüchtet. Nun leben in Transkarpatien vor allem zurückgebliebene alte Menschen und Flüchtlinge.
Doch auch dort starten Menschen Initiativen. Eine Journalistin produziert Podcasts zur Vernetzung und mentalen Unterstützung. Eine Kirchgemeinde liefert warmes Essen an alle, Geflüchtete und einheimische bedürftige Menschen. Flüchtlinge, die in einer alten Schule unterkamen, wünschten sich ein einmaliges Hilfspaket mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln. Und ein paar Gartenwerkzeuge.
Die Angst bleibt
In der Schule lebt auch Yuliya Danylyuk mit ihrer Familie. Väter ab drei Kindern werden nicht eingezogen, darum ist ihr Mann auch da. Sie zeigt die beige Handtasche in die Kamera, in der alles untergebracht war für die Flucht aus Cherson. In Transkarpatien sehe und höre man den Krieg nicht, meint sie. «Doch die Angst ist auch jetzt noch da.»
Hilfe in der Schweiz
Das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks) unterstützt ukrainische Geflüchtete auch hierzulande. Sie können wie Asylsuchende Rechtsberatung, Unterstützung bei der Arbeitssuche sowie Informations- und Begegnungsangebote nutzen. Besonders auf Ukrainerinnen zugeschnitten ist das Basler «ArbeitCo»-Projekt, das Beratung zur Arbeitsintegration bietet und vom Kanton Basel-Landschaft finanziert wird.
«Wir hatten so viele Pläne»