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Kirche und Medien

«Wir schätzen den Zustand der Welt zu schlecht ein»

von Tilmann Zuber
min
27.12.2024
Durch die digitale Entwicklung ist die Medienlandschaft im Umbruch. Der Publizist Matthias Zehnder darüber, warum wir durch die Medien die Welt schlechter einschätzen.

Matthias Zehnder, den Zeitungen geht es heute nicht gut. Die Auflagen der klassischen Printmedien befinden sich seit Jahren im Sinkflug?

Gedruckte Zeitungen gehören, was Nachrichten betrifft, der Vergangenheit an. Doch das bedeutet nicht, dass sie keine Zukunft haben, aber sie spielen im Alltag der Menschen eine andere Rolle. Sie werden weniger, vielleicht nur noch am Wochenende gelesen.

Die Bedeutung der sozialen und digitalen Medien nimmt dagegen stetig zu. Wie verändert das die Medienwelt?

Medien konkurrieren heute mit vielen anderen Anbietern im gleichen digitalen Raum um Aufmerksamkeit und Klicks. Das ist problematisch und macht die Medienwelt kaputt, weil alles Wissenswerte und Relevante dabei untergeht. Im Kampf um Aufmerksamkeit werden die Medien lauter und schriller. Schlagzeilen versprechen oft mehr als der Inhalt. Paradoxerweise verlieren Medien, die um Aufmerksamkeit buhlen, an Beachtung.

Im Kampf um die Aufmerksamkeit greifen die Medien zur Boulevardisierung, was die Politik beeinflusst.

Ist die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten das Ergebnis dieser Entwicklung?

Vielleicht. Sie ist Ursache und Symptom dieser Entwicklung. Trump bedient sehr stark den Aufmerksamkeitsmarkt, und die Medien reagieren sofort auf seine Grenzverletzungen. Im Kampf um die Aufmerksamkeit greifen die Medien zur Boulevardisierung, was die Politik beeinflusst. Parteien, die an den Rändern stehen, profitieren davon, dass sie überproportional in den Medien auftauchen. Sei es die AfD in Deutschland, Trump in den USA oder ähnliche Bewegungen in Europa.

Hinzu kommt, dass man sich im Internet in seiner eigenen Blase bewegt und sich von Andersdenkenden abschottet?

Das ist ein Phänomen, das unterschätzt wird. Wenn ich eine Zeitung lese und zum Beispiel nach Fussballergebnissen suche, nehme ich viele andere Artikel zur Kenntnis. In den sozialen Medien und auf Websites ist es umgekehrt: Ein Inhalt findet mich, weil er genau zu meinem demografischen Profil passt und der Algorithmus das ausspielt.

Mit welchen Folgen?

Wir blicken seltener über den Tellerrand unserer Gewohnheiten und unseres Wissens hinaus. Wir sehen nur, was uns interessiert. Eine Zeitung macht es möglich, über den Rand hinaus zu lesen.

 

Matthias Zehnder ist freier Publizist, Berater, Autor und Medienbeauftragter der Basler Kirche. Er war Chefredaktor der «Coopzeitung» und der «bz Basel». Als Publizist beschäftigt er sich seit 30 Jahren mit der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz.

 

Verändert uns der ständige Kampf um Aufmerksamkeit?

Ja. Er führt zu Übersättigung und Ermüdung. Und wir nehmen die Medien nicht mehr ernst. Wenn uns ständig Push-Nachrichten aufschrecken, haben wir irgendwann genug. Medien versuchen als Folge, mit noch mehr schlechten Nachrichten Aufmerksamkeit zu erlangen. Das führt dazu, dass die Menschen den Zustand der Welt massiv zu schlecht einschätzen.

Studien zeigen, dass die Depressionen in der Gesellschaft zunehmen. Sind daran auch die Medien schuld?

Das hat viele Gründe. Wir alle sind heute kleinen Atlanten, welche die Last der ganze Welt auf unseren Schultern tragen, angefangen beim Klimawandel über die Kriege bis hin zur Abfallentsorgung. Wenn irgendwo auf der Welt ein Flugzeug abstürzt, dann berichten die Medien sofort darüber. Von denen, die sicher landen, erfahren wir nichts. So wird die Welt unendlich schwer und negativ. Es kostet viel Kraft, sich daraus zu lösen und sich auf die positiven Nachrichten zu konzentrieren. Denn diese sind oftmals schwer zu finden.

Was kann der Einzelne tun? Keine Zeitung mehr lesen? Keine Nachrichten mehr sehen?

Eine wachsende Bewegung verweigert sich inzwischen den Nachrichten. Das halte ich für keine gute Idee. Ich rate zu einem bewussten begrenzten Nachrichtenkonsum. Man sollte längere Artikel lesen, die Wissen vermitteln, oder Bücher, Belletristik, die Perspektiven anderer Menschen aufzeigen. Ich selbst lese jede Woche zwei Bücher, ein Sachbuch und einen Roman. Das tut mir gut.

Die Kirche bringt eine ganz andere Zeitdimension ins Spiel mit Geschichten, die 2000 bis 3000 Jahre alt sind.

Welche Rolle kann die Kirche in der Medienlandschaft spielen?

Die Kirche bietet Raum für andere Inhalte und Werte als die einer auf Ökonomie und Effizienz getrimmten Welt. Die Kirche bringt eine ganz andere Zeitdimension ins Spiel mit Geschichten, die 2000 bis 3000 Jahre alt sind. Das relativiert die kurzfristigen Push-Nachrichten. In der Kirche geht es ausserdem nicht um Profit, weder zeitlich noch finanziell, sondern um bedingungslose Zuwendung. Die Kirche ist eine Antithese zu dem, was heute in der Welt passiert.

Müsste die Kirche diese Botschaft stärker kommunizieren?

Als Kind hatte ich eine Bibel mit dem Titel «Die Gute Nachricht». Das ist der Kern. Die Kirche hat eine gute Nachricht, die sie frohgemut erzählen kann. Das ist wichtig, damit wir vom Positiven zehren können.

Die Welt braucht also mehr Geschichten der Hoffnung?

Ja, wir brauchen gute Hoffnungsgeschichten. Viele Menschen suchen danach, zum Beispiel wenn sie Biografien lesen und sich mit den Lebensgeschichten anderer Menschen beschäftigen. Wir berechnen die Kalorien und Vitamine, die in Lebensmitteln stecken, um zu sehen, ob diese uns gut tun. Genauso sollten wir darauf achten, was wir unserem Geist zuführen, damit es uns gut geht.

 

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