«Wir sehen eine neue Dimension von Antisemitismus»
In 2023 wurden deutlich mehr antisemitische Taten verübt als in den Jahren, gar Jahrzehnten, zuvor. Auslöser dafür waren der Angriff der Hamas auf Israel und die darauf folgende israelische Offensive im Gazastreifen. War das für Sie in diesem Masse zu erwarten?
Es ist schon speziell: Ende September hatten wir die erste Sitzung für den Bericht des Jahres 2023. Damals war die Lage vergleichsweise erfreulich. Im Gegensatz zu den Jahren 2021 und 2022, die auch pandemiebedingt stark durch antisemitische Verschwörungstheorien geprägt waren, sahen wir insgesamt leicht rückläufige Fallzahlen. Doch dann kam der 7. Oktober. In den folgenden drei Monaten registrierten wir so viele Fälle, wie noch zu keinem Zeitpunkt. Und die Welle antisemitischer Übergriffe begann unmittelbar nach den Terrorattacken der Hamas, noch vor dem Beginn der israelischen Bodenoffensive.Sie war quasi eine Reaktion darauf, dass Juden in Israel umgebracht wurden und das Land sagte, es werde sich wehren. Es ist absoluter Humbug, dass die Bodenoffensive der Auslöser war.
Wie erklären Sie sich das?
Es zeigt, wie stark Antisemitismus latent vorhanden ist und wie wenig es braucht, damit er zum Vorschein kommt. Als Auslöser reichte es aus, dass Israel angegriffen wurde, eigentlich absurd.
Die Vorfälle in der digitalen Welt nahmen geringfügiger zu – anders als in den Vorjahren.
Das ist so, gilt aber nur bis zum 7. Oktober. Danach, ganz typisch provoziert von einem Trigger, hatten wir zahllose Onlinevorfälle. Ungewöhnlich waren also eher die Monate zuvor, hier hätte man vorsichtig sogar von einer Beruhigung im Onlinebereich sprechen können.
Beschimpfungen und Tätlichkeiten
Beschimpfungen und Tätlichkeiten Seit dem Angriff der Hamas auf Israel und dem Gazakrieg wurden in der Schweiz mehr antisemitische Vorfälle registriert als je zuvor. In ihrem jährlichen Antisemitismusbericht schreiben der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus von einer «regelrechten Antisemitismuswelle». Beunruhigten in den letz ten Jahren vor allem vermehrte judenfeindliche Äusserungen und Hetze im Internet, schreckt 2023 die Anzahl der Vorfälle in der realen Welt auf. 155 Fälle wurden bekannt, im Vorjahr waren es noch 57 gewesen. Über zwei Drittel ereigneten sich nach dem 7. Oktober.
«Eine derartige Häufung von Tätlichkeiten, Schmierereien, Beschimpfungen und Vorfällen an Demonstrationen innert so kurzer Zet ist beispiellos», heisst es in einer Mitteilung. Zehn Übergriffe wurden registriert, im Vergleich zu einem im Jahr 2022. Verschärft haben sich auch die Inhalte von Schmierereien und Zuschriften, sie reichten von Todesdrohungen bis hin zu Vernichtungsfantasien. Die Verfasser des Berichts gehen davon aus, dass die Lage im Nahen Osten unterschiedliche Gruppen zu antisemitischen Äusserungen, Taten oder Parolen veranlasste: sowohl rechts- und linksextreme Personen, pro- palästinensische wie auch solche aus der Mitte der Gesellschaft.
Ein besonderes Augenmerk legt der Bericht auf die an pro-palästinensischen Demonstrationen skandierte Parole «From the river to the sea, Pales tine will be free». Sie bedeute in Konsequenz ein Auslöschen Israels und komme einem Gewaltaufruf gleich.
Vor einer Woche griff ein Jugendlicher in Zürich einen orthodoxen Mann mit einem Messer an. Das Opfer wurde lebensgefährlich verletzt. Wie ordnen Sie die Attacke ein mit Blick auf antisemitische Vorfälle in der Schweiz?
Sie zeigt eine komplett neue Dimension des Antisemitismus in der Schweiz. Eine Tätlichkeit wie die Messerattacke in Zürich haben wir seit Jahrzehnten nicht erlebt, deshalb erschüttert uns das massiv. Selbst mit Blick auf Nachbarländer wie Deutschland und Frankreich, in denen die Bedrohungslage anders ist, ist diese Tat extrem.
Es gibt jüdische Mitbürger, die der Ansicht sind, der Angriff sei vorhersehbar gewesen, angesichts der politischen Lage und der zahlreichen propalästinensischen Demonstrationen. Ist das für Sie plausibel?
Manche sehen das so. Und tatsächlich ist seit dem 7. Oktober ein Nährboden für physische Angriffe entstanden. Aber eigentlich haben mich der Zeitpunkt und die Heftigkeit der Attacke doch überrascht. Denn unmittelbar nach dem Angriff auf Israel gab es zahlreiche antisemitische Vorfälle in der Schweiz, damals hätte ich eher damit gerechnet. Gegen Jahresende hat sich die Lage etwas beruhigt.
Die Parole «From the river to the sea. Palestine will be free» spielt gerade an pro-palästinensischen Demonstrationen eine grosse Rolle. Sie widmen ihr eine ganze Passage in ihrem Bericht. Warum?
Fast bei allen diesen Demonstrationen wurde dieser Slogan als Kampfbegriff skandiert oder auf Schildern gezeigt. Damit wird ein Nährboden geschaffen, denn der Slogan richtet sich ganz klar gegen jüdische Menschen. Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer liegt Israel mit sieben Millionen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern. Befreiung heisst hier Auslöschung und Vertreibung. Alles andere ist ein Schönreden dieser Tatsache.
Glauben Sie, das ist im Bewusstsein aller Menschen, die diese Parole verwenden, auch angekommen?
Die einen sind sich dessen sehr bewusst, mit allen Konsequenzen. Die anderen wollen damit provozieren. Andere wissen es vielleicht nicht so genau, deren Naivität ist unfassbar. Es muss doch möglich sein, solche Demonstrationen ohne diesen antisemitischen Gewaltaufruf durchzuführen.
Jonathan Kreutner
Der Historiker ist seit 2009 Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Seit Anfang 2020 ist er Mitglied der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR).
Was bedeutet der Messerangriff auf den orthodoxen Mann für das Sicherheitsempfinden unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger?
Schon unmittelbar nach dem Angriff auf Israel war unser Sicherheitsempfinden erschüttert. Doch eigentlich befinden wir uns diesbezüglich in einem Dauerzustand. Jüdische Menschen sind es gewohnt, dass Sicherheitspersonal in ihrem Alltag eine Rolle spielt. Polizisten vor Synagogen und Gemeindehäusern irritieren sie nicht. Ich würde sagen, nach der Attacke herrscht nun Verunsicherung, aber, zumindest bei vielen, keine Angst. Tatsache ist allerdings, dass auch ich mich heute umgeschaut habe, um zu sehen, wer hinter mir läuft. In bestimmten Gegenden in Frankreich und Deutschland ist man das gewohnt, aber hier in der Schweiz kannte ich das bisher nicht.
Im Zürcher Kantonsrat kam es diese Woche zum Eklat nach einer Wortmeldung zur Messerattacke. Ein SVP-Vertreter warf linken Parteien Antisemitismus vor. Sehen oder befürchten Sie eine Instrumentalisierung des Falls durch die Politik?
Eine Instrumentalisierung darf nicht sein. Dass man diese Tat – ein Angriff, bei dem nur durch das beherzte Eingreifen von Passanten kein Mensch gestorben ist, politisch ausnutzen will, geht nicht. Und nicht nur das, es ist auch gefährlich. Denn indem man den Antisemitismus auf ein politisches Spektrum begrenzt, wird er in anderen Bereichen der Gesellschaft ausgeblendet. Antisemitismus manifestiert sich in allen Milieus, er kommt in der linken wie der rechten Ecke vor, unter muslimischen Migranten und in der Mitte der Gesellschaft.
Wie haben Sie die Anteilnahme in der Bevölkerung erlebt?
Am Wochenende habe ich bereits sehr viele persönliche Emails erhalten. Das, obwohl nicht absolut klar war, dass die Tat einen antisemitischen Hintergrund hatte. Diese absolute Gewissheit hatten wir erst am Montag bei der Medienkonferenz , bei der ich mit Vertretern von Stadt und Sicherheitsbehörden auf dem Podium sass. Was offizielle Rückmeldungen angeht, haben Stadt und Kanton schnell reagiert. Auch die Unterstützung der Landesregierung haben wir gespürt. Es gab ein Treffen zwischen SIG-Präsident Ralph Lewin und Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider und mehrere Bundesräte haben öffentlich ihre Anteilnahme ausgesprochen.
Die Vereinigung der islamischen Organisationen in Zürich (Vioz) hat sehr schnell nach dem Angriff die Stellungnahme «Nicht in unserem Namen!» veröffentlicht. Was können Religionsgemeinschaften tun, um sich unter diesen schwierigen Umständen nicht spalten zu lassen?
Die Vioz hat die Messerattacke sehr schnell und deutlich verurteilt. Das war sehr wichtig, denn die Tat war ja islamistisch motiviert. Diese Reaktion ist deshalb ein sehr deutliches Signal nach innen, an die eigene Gemeinschaft. Aber auch die jüdische Gemeinschaft und unser Dachverband haben eine Verantwortung. Wir dürfen nicht pauschalisieren und stigmatisieren. Wir müssen zwar unsere Befunde offenlegen, Probleme ansprechen und wir dürfen nicht wegschauen. Aus dieser Tat aber abzuleiten, dass alle Muslime in diesem Land ein Antisemitismus-Problem haben, wäre falsch und gefährlich.
Was sind Ihre Forderungen an die Politik mit Blick auf die Verschärfung der Lage?
Einiges ist ja bereits passiert. Das Hamas-Verbot ist in der Vernehmlassung und muss danach rasch umgesetzt werden. Auch ein positiver Schritt sind die geplante Strategie und der Aktionsplan gegen Rassismus und Antisemitismus, die der Nationalrat vom Bundesrat fordert. Beim Verbot von Nazi-Symbolen drehen wir uns noch immer im Kreis, das darf nicht sein. Grundsätzlich braucht es jetzt Sofortmassnahmen: Der Bund muss sein Engagement gegen Antisemitismus verstärken und wenn er gewisse Dinge selber nicht tun kann, dann soll er zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich hier seit Jahrzehnten engagieren, unterstützen.
Was heisst das konkret?
Bis heute gibt es keine staatliche Meldestelle für Antisemitismus. In Deutschland organisiert das der Staat, hier müssen wir das selbst organisieren und mehrheitlich tragen, um überhaupt Statistiken und Analysen zum Antisemitismus in diesem Land zu haben. Und auch die Prävention organisieren wir selber, gehen mit Projekten wie Likrat beispielsweise in Schulen. Eigentlich ist Prävention eine staatliche Aufgabe. Die Messerattacke ist ein Weckruf, sie war nicht ein Angriff auf die jüdische Minderheit, sondern ein Angriff auf die Schweiz. Jetzt muss es auch der letzte gemerkt haben: Antisemitismus ist nicht ein Problem der Betroffenen, sondern der Gesellschaft, und deshalb ist die Gesellschaft auch in der Verantwortung.
(Das Interview wurde am 12.03. mit Blick auf die Veröffentlichung des Antisemitismusberichts aktualisiert)
«Wir sehen eine neue Dimension von Antisemitismus»