«Wir sind Engelsboten und Blitzableiter»
Ruth Prinz strahlt Herzlichkeit aus, als sie die Tür zu ihrem Zuhause im Schaffhauser Quartier Buchthalen öffnet. Durch das behagliche Wohnzimmer führen kleine Eisenbahnschienen. «Das ist das Reich unserer Enkelkinder, wenn sie zu Besuch sind», sagt sie lachend.
Vor mehr als vierzig Jahren kam Ruth Prinz aus der Innerschweiz nach Schaffhausen. «Ich war damals frisch verheiratet und kannte niemanden», erzählt sie. Sie fand Anschluss in der Reformierten Kirchgemeinde Buchthalen. «Ich engagierte mich in der Kinderhüte, im Mittagstischteam, beim Basar und im Kirchenstand. Das HofAckerZentrum wurde zu einem zweiten Zuhause für mich.»
Blumentöpfe, Kalender, Kaffee
Einem besonderen Freiwilligenteam blieb Ruth Prinz bis heute treu: dem Besuchsteam der Kirchgemeinde, das dieses Jahr sein 50-Jahr-Jubiläum feiert. Im Jahr 1974 starteten drei Pfarrer und zwölf freiwillige Damen eine jährliche Besuchsaktion bei Gemeindemitgliedern, die das 75. Altersjahr erreicht hatten. Mit 300 Franken von der Hülfsgesellschaft bestritt man die vereinbarten Gaben: Blumentöpfe, Kalender, Kaffee oder Geldbeiträge. Zu Beginn waren es 92 Besuche bei Einzelpersonen und Ehepaaren im Quartier Buchthalen. Im Jahr 1991 waren es bereits 180 Besuche. Bei einer Teamzusammenkunft betitelte der damalige Pfarrer die Teammitglieder als «Engelsboten und Blitzableiter». Laut Protokoll reagierte das Team mit folgendem Satz: «Wir sind gerne bereit für beides!» – «Das hat sich bis heute nicht geändert», bestätigt Ruth Prinz.
Im Jahr 1996 wurden zum ersten Mal nur Gemeindemitglieder besucht, die das 80. Altersjahr erreicht hatten. Auszug aus dem Protokoll: «Nach der Begrüssung durch Pfr. H. P. Erni bekommen die Besucherinnen und Besucher durch Handpuppen vorgespielt, wie so ein Besuch bei einer noch unbekannten Person verlaufen kann.» Im Jahr 1997 bewältigte das Team jährlich 190 Besuche. Doch dabei blieb es nicht. Im Jahr 2016 verzeichnete es die Rekordzahl von 263 Besuchen. «Wir waren damals mehr als 40 Personen im Team. Dadurch konnte wir alle Besuche gut unter uns aufteilen.»
Zuhören und lebhafte Gespräche
Ruth Prinz absolviert ihre jährlichen Besuche mit Herzblut. «Ich schenke meine Zeit gerne, es kommt viel Positives und Dankbares zurück», sagt sie. Und sie fügt an: «Man kann von alten Menschen so vieles erfahren, ich empfinde diese Begegnungen bis heute als bereichernd.» Bei manchen ist sie einfach nur da, um zuzuhören. Bei anderen entwickeln sich lebhafte Gespräche. «Man muss offen sein für die Begegnung und sich auch zurücknehmen können. Manchmal braucht es Fingerspitzengefühl für das, was man sagt.» Sie schmunzelt und erzählt von einem Besuch bei einem Kunstmaler, der ihr eines seiner Bilder gezeigt hat mit der Aufforderung, diesem Bild einen Namen zu geben. «Ich konnte auf dem Bild nichts erkennen und geriet erst einmal ins Schwitzen», erinnert sie sich. Das Szenario habe dann aber zu einem interessanten Gespräch über das Bild geführt, «auch wenn wir beide schliesslich keinen Namen dafür gefunden haben».
Eine Dame erwartete die Besucherin stets mit einem belegten Brötchen und Zuger Kirschtorte. «Das war ihr jährliches Ritual, von dem sie nicht abzubringen war.» Über die Jahre entstehen wertvolle Beziehungen zu den betagten Menschen. «Man bekommt mit, wie es um die Gesundheit steht, wenn Ehepartner versterben oder jemand ins Altersheim zieht. Ich frage mich bei vielen Abschieden, ob dies mein letzter Besuch gewesen ist.»
Heute bestehen die Gaben aus einer Flasche Hauswein aus dem Rebberg der Kirchgemeinde und einem Glas Biohonig aus der Region. Ruth Prinz meldet sich telefonisch bei den Leuten an und macht einen Besuchstermin ab. «Selten kommt es vor, dass jemand keinen Besuch in der Wohnung möchte. Das nehme ich nicht persönlich.»
Neue Altersgrenze 85-Jährige
Über die Jahre ist das Besuchsteam kleiner geworden. Viele der aktuellen Mitglieder sind über 80 Jahre alt. «Wie überall im Freiwilligenbereich kämpfen auch wir mit Nachwuchsproblemen», so Prinz. Gleichzeitig leben immer mehr alte Menschen im Quartier. «Im letzten Jahr war es zum ersten Mal nicht möglich, alle Besuche unter uns Teammitgliedern zu verteilen.» Aufgefangen wurde die Situation durch telefonische Kontakte.
Ab dem nächsten Jahr nimmt das Team die jährlichen Besuche erst bei Menschen wahr, die das 85. Lebensjahr erreicht haben. «Ich finde diesen Entscheid richtig, viele 80-Jährige sind heute noch gut unterwegs und nicht auf Besuche angewiesen», so Ruth Prinz. Sie hofft, dass das Besuchsteam weiterbesteht. «Es ist eine tolle Möglichkeit, mit Menschen, die nicht mehr so aktiv am sozialen Leben teilnehmen können, in Verbindung zu bleiben. Ich möchte die Begegnungen nicht missen und hoffe, dass wir jüngere Verstärkung für unser Team finden.»
«Wir sind Engelsboten und Blitzableiter»