«Wir wollen die protestantische Stimme in Europa einbringen»
Die Gemeinschaft europäischer Kirchen in Europa (Geke) feierte 2023 ihr 50-jähriges Jubiläum. Gerade fand die Vollversammlung statt, an der Sie ins Präsidium eingezogen sind. Wie erleben Sie das Fundament, auf dem die Geke nach fünf Jahrzehnten steht?
Das theologische Fundament der Geke ist sehr stark. Die vor über 50 Jahren in Leuenberg vereinbarte Abendmahlsgemeinschaft und gegenseitige Anerkennung der Ordinationen und unser Verständnis der Einheit in gelebter Verschiedenheit wurden weiter ausgearbeitet und haben sich bewährt.
Was uns aber fordert sind die ethischen Diskussionen, etwa im Bereich Sexualität oder Menschenbild. Dort wird spürbar, dass die gesellschaftlichen Kontexte in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind.
Sie spielen darauf an, dass die ungarisch-sprachige reformierte Kirche an der Vollversammlung nicht teilnahm, wegen des Berichts über den Studienprozess «Gender – Sexuality – Marriage – Family». Offenbar spielten dabei konservative Ansichten eine Rolle. Wie bewerten Sie diesen Entscheid?
Es ist tatsächlich das erste Mal, dass eine Delegation wegen eines umstrittenen Themas ferngeblieben ist. Die Gründe waren für alle Kirchen schwer nachvollziehbar. Und trotzdem hat die Geke ohne Diskussion beschlossen, dass ein ungarischer Vertreter im neugewählten Rat Einsitz nimmt. Das ist ein eindrückliches Zeichen von Stärke und dem Willen, trotz verschiedenen Positionen, weiterhin gemeinsam unterwegs zu sein.
Ihr Vorgänger John Bradbury sagte, es sei nicht mehr die Lehre, die die Einheit bedroht, sondern ethische Fragen und verschiedene Auffassungen über das Verhältnis von Politik und Kirche. Sind diese Gräben Ausdruck der zunehmenden Polarisierung in der Gesellschaft?
Vielleicht sind sie ein Zeichen dafür. Dennoch würde ich nicht von Gräben sprechen, ich erlebe die Differenzen in der Geke eher als eine Art theologisches Ringen. Es wird auf hohem Niveau diskutiert, niemand hält seine Meinung zurück, es gibt keine Tabus. Gleichzeitig hören wir einander gut zu. Wir sind jenseits des ideologischen Schlagabtauschs, wie wir ihn oft in der Politik in Europa erleben. Diese Gesprächskultur könnte auch ein Beitrag der Geke für Europa sein.
Wie genau?
Wir sind beispielsweise neuerdings als Nichtregierungsorganisation beim Europarat in Strassburg akkreditiert und haben einen eigenen Vertreter vor Ort. In der Geke sitzen ja nicht nur Kirchen der EU-Länder, sondern beispielsweise auch der Schweiz, Grossbritannien und weiterer Länder. Deshalb ist der Europarat für uns ein geeignetes Organ. Dort können wir bei verschiedenen Themen, etwa Menschenrechte und Demokratie, die Position der Kirchen einbringen.
Ist die Geke also mehr als eine Art Austauschplattform?
Wir wollen die protestantische Stimme einbringen in das Europa der heutigen Zeit. Gleichzeitig sind wir aber schon auch Austauschplattform für unsere Kirchen. Wir haben ja weitgehend die gleichen Probleme, die meisten Kirchen kämpfen beispielsweise mit Mitgliederschwund und Personalmangel. Unsere Mitgliederkirchen wünschen sich daher vermehrt Best Practice Beispiele. Es geht um die Frage, wie wir unsere Mission als Kirche in einem säkularen Umfeld erfüllen können. Oder wie wir unseren christlichen, protestantischen Glauben vermitteln.
Der Generalsekretär äusserte sich an der Vollversammlung auch zum Verhältnis zu den charismatischen Kirchen. Er sagte, man sei hier an die Grenzen der Sprachfähigkeit gekommen. Inwiefern beschäftigt das die Geke?
Wir habe ein Lehrgespräch zum Thema «Konfessionalität» beschlossen. Im Zentrum steht die Frage, wie wir als konfessionelle Kirchen unser Verhältnis zu den sogenannten postkonfessionellen Kirchen, also den Freikirchen in Europa, verstehen.
Geht es um eine Annäherung?
Es geht eher um die Frage, wie wir diesen Strömungen gegenüber sprachfähig werden. Welche Rolle die Konfessionalität spielt im Gespräch mit diesen Kirchen und ihren Mitgliedern, die teilweise ja auch in unseren Gemeinden unterwegs sind.
Viele der traditionellen Kirchen verlieren Mitglieder. Die Freikirchen scheinen sich besser zu entwickeln. Spielt bei diesem Dialog die Angst mit hinein, an Bedeutung zu verlieren?
Nein, überhaupt nicht. Aber die konfessionellen Kirchen, etwa die reformierte Kirche in der Schweiz, haben die Gesellschaft stark geprägt. Auch für die Evolution der Demokratie spielten sie eine wichtige Rolle - mit Blick auf die Frauenfrage oder die Bildung. All diesen Entwicklungen beeinflussten auch postkonfessionelle Bewegungen, die gar nicht wissen, welche Rolle die Reformation lutherischer und reformierter Prägung für ihre heutige Existenz hat. Dieses Bewusstsein möchten wir fördern, innerkirchlich, in all diesen Bewegungen, aber auch in unserer Gesellschaft.
Mehr als 50 Jahre Kirchengemeinschaft
Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa wurde 1973 als «Leuenberger Kirchengemeinschaft» gegründet. Die auf dem Leuenberg bei Basel verabschiedete Erklärung beendete eine seit der Reformation bestehende, mehr als 450 Jahre währende Trennung innerhalb der evangelischen Kirchen. Die Mitgliedskirchen gewähren sich seitdem Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft.
Beinahe 100 lutherische, methodistische, reformierte und unierte Kirchen aus mehr als 30 Ländern in Europa gehören der Gemeinschaft an. Hinzu kommen drei Kirchen in Argentinien und Uruguay, die von Auswanderern gegründet wurden. Eigenen Angaben zufolge vertritt die Kirchengemeinschaft rund 50 Millionen Protestanten. Die Vollversammlung findet alle sechs Jahre statt, 2024 trafen sich Vertreter in der rumänischen Stadt Sibiu. Als theologische Arbeitsschwerpunkte für die nächsten Jahre hat die Geke unter anderen die Konfessionalität in der Kirchengemeinschaft, das Menschenbild in verschiedenen ethischen, sozial-ethischen, medizin-ethischen Diskussionen und die Theologie des Wandels beschlossen.
Sie sprachen an der Vollversammlung zum Thema Ökumene und befanden, dass diese in viele Ländern stockt. Was heisst das für die Geke?
Es ist wichtig, am Thema dranzubleiben, Gespräche mit anderen Kirchen weiterzuführen. Beispielsweise sprechen wir mit den europäischen Baptisten wegen eines möglichen Geke-Beitritts. Das ist nicht ganz einfach, weil Baptisten die Taufe von Kindern nicht anerkennen. Auch sind wir mit der Fellowship of Middle East Evangelical Churches im Nahen Osten partnerschaftlich verbunden. Und wir sind mit dem Päpstlichen Dikasterium zur Förderung der Einheit der Christen im Dialog zur Ekklesiologie. Auch das sind herausfordernde Gespräche. Für uns geht es bei der Ökumene darum, sich in strittigen Fragen zu einigen, um dann Kirchengemeinschaft leben zu können. Dieses Verständnis von Ökumene würden wir auch gerne in andere Organisationen einbringen, etwa in den Ökumenischen Rat der Kirchen.
An der Vollversammlung fand auch eine Podiumsdiskussion zwischen Vertretern der lutherischen Kirche Russlands und der deutschen evangelischen Kirche in der Ukraine statt. Wie haben Sie diese Diskussion erlebt?
Es nahmen nicht nur Vertreter dieser Länder am Podium teil, sondern auch aus Irland, Kroatien sowie eine Ethikerin, die die Versöhnungsarbeit in Ruanda begleitet. Also Länder, die nach gewaltsamen Auseinandersetzungen bereits in der Phase der Versöhnungsarbeit sind. Dass Vertreter Russlands und der Ukraine trotz der andauernden Kampfhandlungen als Delegierte an der Vollversammlung waren und auf demselben Podium sassen, fand ich aber sehr eindrücklich. Der ukrainische Vertreter berichtete, wie die Kirche in Odessa sich bemüht, den Alltag lebendig zu behalten. So hat sie drei Kinderspielplätze gebaut und feiert mehr Gottesdienste, damit die Menschen sichere Orte des Gebets und des Austauschs haben. Der russische Vertreter erinnerte daran, dass es wichtig sei, am Gebet für den Frieden festzuhalten. Und ebenso die Menschen in Russland im Alltag zu begleiten, von denen viele auch Angehörige im Krieg verloren haben. Geärgert habe ich mich über eine Frage aus dem Publikum, die wir jedoch dann nicht mehr besprechen konnten.
Was war die Frage?
«Für welche Frieden beten Sie denn?» Wenn ein Christ aus Russland oder der Ukraine sagt, dass er für Frieden betet, bezieht sich das auf den umfassenden Schalom und nicht auf einen politisch korrekten Frieden. Es ärgert mich, dass der paternalistische Verdacht geäussert wurde, sie könnten für einen «falschen» Frieden beten.
Wie möchten Sie als Präsidentin die Geke prägen?
Das Geke-Präsidium funktioniert anders als das Präsidium bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Wir sind ein Dreiergespann und der einzige Unterschied zwischen mir und den beiden anderen ist, dass ich die Vorgesetzte des Generalsekretärs bin, Personalgespräche führe und zeichnungsberechtigt bin. Die wichtigste Aufgabe des Präsidiums ist es, die neu beschlossenen Studienprozesse gut aufzugleisen. Wichtig wäre mir, dass die 13 Ratsmitglieder und ihre Stellvertretende zu einer Art Botschafter der Geke in ihren Ländern werden und sie dort bei den Kirchgemeinden bekannter machen.
Welchen Nutzen könnten Kirchgemeinden von der Geke haben?
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Kirchgemeinden aus verschiedenen Länder Partnerschaften eingehen, so ähnlich wie Städte das auch tun. Es wäre schön, wenn der protestantische Austausch auch auf der Ebene Kirchgemeinde zum Tragen kommt. Das wäre eine grosse Bereicherung für Kirchgemeinden und würde das protestantische Netzwerk auf europäischer Ebene stärken.
Europas oberste Protestantin
Rita Famos, 58, ist seit 2021 Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Anfang September wählte die Vollversammlung der Gemeinschaft europäischer Kirchen in Europa (Geke) die Pfarrerin in ihr dreiköpfiges Präsidium. Famos ist zudem Mitglied im Zentralausschuss des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK). Vor ihrem Amtsantritt bei der EKS leitete sie in der reformierten Kirche des Kantons Zürich die Abteilung Spezialseelsorge.
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