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Wo der Volksbauch gärt

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22.01.2021
Der Soziologe Walter Hollstein untersuchte, warum die Populisten Aufwind haben. Er führt dies auf die Spaltung der Gesellschaft zurück. Da hätte die Kirche die wichtige Aufgabe die verschiedenen Schichten zusammenzuführen.

Der Erfolg von US-Präsident Donald Trump bei seiner Wählerschaft hat Walter Hollstein nicht überrascht. All die Jahre nicht. «Wir machen einen Fehler, wenn wir glauben, die Populisten und ihre Wähler aus unserer linksliberalen Mittelschicht und ihrer Denkweise zu verstehen», sagt Hollstein. Populisten wie Donald Trump, Silvio Berlusconi oder Jean-Marie Le Pen hätten es verstanden, als Katalysatoren das aufzugreifen, was die Menschen denken und fühlen.

Kluft zwischen Arm und Reich
Der emeritierte Soziologieprofessor hat sich vertieft mit der Spaltung der Gesellschaft beschäftigt. In Interviews und bei der Untersuchung von Medienberichten ging der Basler der Frage nach, warum die Populisten Aufwind haben. «Das Gären im Volksbauch» heisst sein neuestes Buch, in dem Hollstein seine Erkenntnisse verarbeitet. Den Grund für den Populismus in der Politik sieht er in der Spaltung der Gesellschaft, die seit 30 Jahren stattfinde. Die Kluft zwischen Arm und Reich sei grösser geworden. Die verschiedenen Bevölkerungsschichten drifteten auseinander, haben ihre eigenen Themen, Probleme, Sprache oder Erziehungsstil. Ein Beispiel: Während liberale US-Medien Trumps enorme Verschuldung heftig kritisierten, fühlten sich seine Wähler mit ihm dadurch verbunden. Viele von ihnen seien ebenso verschuldet, erklärt Hollstein.

Brennende Sorgen vernachlässigt
Die Spaltung und Individualisierung sei ein Phänomen der Globalisierung und führe dazu, dass der Zement, der die Gesellschaft zusammengehalten hat, langsam bröckelt, erklärt Walter Hollstein. Die sozialen Fragen, die früher die Linke bewirtschaftete, spielten heute eigentliche keine Rolle mehr. Was heute im Vordergrund stehe, seien Ökologie, Feminismus, Gender- und Identitätspolitik. Diese Themen seien jedoch nur für ein bestimmtes Milieu wichtig, so der Soziologe. Die #MeToo-Debatte beispielsweise hat gemäss der Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa in Deutschland nur 1,5 Prozent der Bevölkerung erreicht. Die brennenden Fragen, welche die Leute heute interessieren, seien die Sorge um die Altersversorgung, den Arbeitsplatz oder die Angst vor der Migration, stellt Walter Hollstein fest.

Vermehrt den Sinn des Lebens suchen
Zum Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, gehören gemäss Hollstein Vereine, Kirchen oder politische Parteien. Sie führten die unterschiedlichsten Menschen zusammen und sorgten für Kontinuität und für das Gefühl der Sicherheit. Doch die Vereine, Parteien und Kirchen seien auf dem Rückzug. Problematisch findet Walter Hollstein, dass die Kirche den gesellschaftlichen Trend des «abgehobenen Denkens» mitmache, statt korrigierend einzugreifen. Viele hätten im Zuge der Globalisierung die Orientierung verloren und fragten sich, was der Sinn im Leben sei. Da sei ja eigentlich die Kirche gefordert.

Intellektualisierung in der Kirche
Walter Hollstein hat sein Leben lang, von der Basler Sonntagsschule bis heute Gottesdienste besucht. Der Soziologe stellt in der Kirche eine Ideologisierung und Intellektualisierung fest, die über die Köpfe der Menschen ziele. «Eine kluge Auslegung der Bibel ist sicher gut, doch die gibt es auch an der Universität und der Volkshochschule. Es wäre wichtiger, wenn die Pfarrerinnen und Pfarrer auf die Leute zugehen würden, um zu sehen, welche Schwierigkeiten und Bedürfnisse sie haben.»

Hollstein bemängelt, dass die Kirche dem ideologischen Mainstream folge. Sie bewirtschafte etwa ökologische Probleme in Südamerika, während vor Ort das Gemeinschaftsleben austrockne. «Die Kirche verpasst eine Chance, wenn sie die gleichen Themen aufgreift wie die Politik und die Medien.» Hinzu komme, dass die Kirche, wie die Post und die Banken, ihren Service public zurückfahre und Kirchgemeinden zusammenlege. «Immer häufiger wohnen der Pfarrer oder die Pfarrerin auswärts. Und die Kirche steht nicht mehr im Dorf.»

Stärker für Werte einsetzen
Sollte sich die Kirche in die Politik einmischen? «Unbedingt», meint Walter Hollstein, der es befürwortete, dass sich die Kirche für die Konzernverantwortungsinitiative stark machte. Er fordert die Kirche auf, vermehrt ihre eigene Position, die auf dem Evangelium beruht, zu vertreten. Und dies öffentlich. «In der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam, den Vertretern der Globalisierung und des Börsen-Kapitalismus ist es wichtig, dass die Kirchen ihre Werte und ihre Botschaft in die Waagschale werfen.» Gerade die reformierte Kirche krebse vor der eigenen Position oftmals zurück und betone zunehmend Themen, die nur eine «Elite» interessierten.

«Albert Schweitzer sah die Inhumanität nicht nur im Krieg oder bei kolonialer Ausbeutung», erklärt Walter Hollstein, «sondern darin, dass die «Affinität zum Nebenmenschen» verloren gegangen sei. Diese Affinität oder Solidarität sei die Basis für den Zusammenhalt in der Gesellschaft und eigentlich das Kerngeschäft der Kirche. Sie müsste dies nur verstärkt wieder in den Fokus nehmen.

Tilmann Zuber, kirchenbote-online

Buchtipp: Das Gären im Volksbauch, Warum die Rechte immer stärker wird, Walter Hollstein, NZZ Libro

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