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Wo endet die Solidarität?

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16.06.2022
Der Journalist Klaus Petrus berichtet über die Schicksale von Flüchtlingen aus der Ukraine, aus Afghanistan und Syrien. Er macht sich Gedanken darüber, warum die einen bei uns willkommen sind und die anderen nicht mehr.

Als ich anfangs März an der ungarisch-ukrainischen Grenze über die Situation der Geflüchteten berichtete, war die Sorge um die Ukraine bereits gross. Viele helfende Hände waren zu sehen, viele tröstende Worte waren zu hören. Auch in Richtung Schweiz machten sich Frauen mit ihren Kindern auf. Damals entschied der Bundesrat, dass Vertriebene aus der Ukraine den «Schutzstatus S» erhalten, ein Aufenthaltsrecht ohne Asylverfahren. Die Solidarität war auch hierzulande überwältigend, Menschen spendeten Geld, schwenkten ukrainische Fahnen, einige nahmen gar Geflüchtete bei sich auf.

Zwei Monate später war ich erneut an einer Grenze, diesmal an der bosnisch-kroatischen. Noch immer versuchen hier abertausende Migranten in die EU zu gelangen. Nur sind es nicht ukrainische Geflüchtete, sondern Menschen aus Afghanistan, Pakistan oder Syrien. Bei ihrem Versuch, über die Grenze zu gelangen, werden sie meist von der kroatischen Polizei aufgegriffen und nach Bosnien zurückgebracht. Oft ist bei solchen Rückschaffungen oder «Pushbacks» Gewalt im Spiel: die Migranten werden geschlagen, ihre Handys kaputtgemacht, ihre Habseligkeiten verbrannt. Die EU weiss das, schaut aber weg. Und nimmt damit in Kauf, dass die Menschlichkeit vor den Toren Europas verloren geht.

Fremde geworden
Dabei war vor wenigen Jahren noch alles anders. Damals, im Herbst 2015, kam in Europa eine Willkommenskultur auf, die berührte. Sie erinnert in vielem an die jetzige Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten. Inzwischen jedoch sind uns die, die wir damals mit offenen Armen begrüssten – auch sie flüchteten vor Krieg und Terror –, wieder fremd geworden.

Wird es auch diesmal so sein? Wird die Solidarität mit der Ukraine schon bald versiegen oder gar in Unmut oder Hass umschlagen? Etwa dann, wenn die ukrainischen Geflüchteten angeblich zu viele werden, wenn sie bleiben wollen, oder wenn sich jene, die ihnen ein Zuhause geben und Essen und Kleidung, überfordert fühlen oder vom Staat alleingelassen?

Was heisst ähnlich?
Nein, heisst es allenthalben, so wird es nicht sein, denn die Ukraine ist uns viel näher. Aber um wieviel näher? 3000 Kilometer – das ist die Distanz zwischen hier und dem Osten der Ukraine, wo derzeit die schlimmsten Kämpfe stattfinden. Das ist aber auch mehr oder weniger die Distanz bis nach Aleppo in Syrien. Aber wenn es nicht die geographische Nähe ist, die Vertrautheit und Solidarität erzeugt, was dann? Liegt es am Lebensstil, der Kultur, der Religion, gar dem Aussehen der ukrainischen Geflüchteten, weswegen sie uns angeblich so ähnlich sind?

Tatsächlich war davon zu lesen und zu hören: Auch die Menschen aus der Ukraine seien «europäisch» und «christlich», und auch sie hätten «blondes Haar» und «blaue Augen». Einmal davon abgesehen, dass derlei Aussagen unverhohlen rassistisch sind, zeigen sie noch etwas anderes, das uns zu denken geben muss: Werden Solidarität und Mitgefühl dazu benutzt, Partei zu beziehen, sich abzugrenzen oder gar eine Mauer zu errichten zwischen «uns» und den «anderen», kann es gefährlich werden. Denn wer zu «uns» gehört und zu den «anderen», kann sich schnell wandeln: Werden für uns in ein oder zwei Jahren die ukrainischen Geflüchteten die Afghanen von heute sein?

Alle sind verletzbar
Dabei müsste unsere Solidarität gar nicht auf so sonderbaren Konstrukten wie Nähe basieren. Es würde genügen, die Aufmerksamkeit auf uns selbst zu lenken: auf uns als Wesen, die wir grundsätzlich verwundbar sind. Kein Mensch ist unverletzbar, was anderen passiert, kann auch uns passieren. Die Verwundbarkeit in allen Dingen – körperlich, seelisch, sozial – ist das, was uns allen gemeinsam ist. Und zwar einerlei woher wir kommen, wie wir aussehen oder an was wir glauben.

Klaus Petrus, kirchenbote-online

Am 20. Juni findet in vielen Kirchen der Flüchtlingssonntag statt.

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