Zu Besuch im Tempel Salomons
Einmal Zugang haben zu einem geheimnisvollen, legendenumrankten Ort, der normalerweise einem exklusiven Zirkel vorbehalten ist: Die Freimaurerloge auf dem Lindenhof in Zürich öffnete ihren Tempel. Die Einladung des Vereins St. Peter zog viele Interessierte an.
Die Lage ist sehr prominent, fast schon spektakulär – im Herzen der Stadt, an einem der am frühesten besiedelten, geschichtsträchtigsten Plätze: Hier auf dem Lindenhof haben die Römer eine Garnison mit Zollstation betrieben, die sagenumwobene Hedwig hat von hier aus 1292 mit Mädchen und Frauen ein ganzes Habsburgerheer verscheucht und steht seit 1912 in Bronze auf dem Brunnen. Rechts von ihr begrenzt den Hof ein langer Gebäudekomplex, dessen Eigentümer als so verschwiegen und diskret gelten, dass Spekulationen über das, was hinter diesen Mauern stattfindet, Tür und Tor geöffnet sind.
Ein cremefarbenes, kirchenähnliches Gebäude, vor dem sich gern Touristen ablichten lassen, steht in der Verlängerung der Lindenhofmauer zur Limmat hin. Zwei Treppen mit verziertem Geländer in Sandstein führen zu einem gotisch anmutenden Portal. Darüber ein rundes Glasfenster mit einem fünfzackigen Stern. An den Dachschrägen führen steinerne Zinnen in sieben Stufen hinauf zu einer metallenen Kugel mit Windfahne: kein Güggel oder Kreuz richtet sich hier nach dem Wind, sondern ein rechtwinkliges Winkelmass – und wieder der Stern. Am schweren Holzportal aus Eiche leuchten golden zwei Löwenköpfe aus Messing, welche als Türklopfer je einen Schlangenring im Mund halten.
Diskretion und Bescheidenheit
Doch längst nicht jedem, der hier anklopft, wird auch aufgetan. Und all diese Symbole sind hier wohl überlegt angebracht, die Zeichen bilden eine Art Codesystem, das sich nur den Eingeweihten wirklich entschlüsselt. Auf die normalerweise publikumsscheuen Besitzer und Nutzer dieser riesigen Anlage findet sich nebenan beim Haus «zum Paradies» ein klitzekleiner Hinweis: «Modestia cum Libertate» steht auf dem Aufkleber am Briefkasten beim Lindenhof 4. «Bescheidenheit mit Freiheit» (nicht etwa umgekehrt) ist den rund 130 männlichen Mitgliedern der ältesten Zürcher Freimaurer-Loge Wahlspruch und Programm.
An diesem Dienstag, 27. September, zeigt sich die Loge erstaunlich mitteilsam und zugänglich, bereit ihre eher weniger bescheidenen Räumlichkeiten herzuzeigen. Das Eichenportal öffnet sich am Nachmittag und Abend zweimal für rund 80 Interessierte. Der Verein St. Peter und die Loge haben gemeinsam zu einer Führung mit anschliessender Diskussion und einem Apéro im Lavaterhaus eingeladen. Der Anlass war innert Kürze ausgebucht, für die Wiederholung im Februar gibt es nur noch wenige Plätze. Der Zugang zu etwas Exklusivem, die Lüftung von Geheimnissen liegt in der Luft – und das hat aufs Publikum noch immer magnetisch gewirkt.
Gut gehüteter Zugang
Schliesslich werden die Freimaurer ab und an als «Geheimbund» bezeichnet, und selbst die neu aufzunehmenden Mitglieder (Lehrlinge) werden erst einmal mit verbundenen Augen durch das mehrstöckige Gebäude geführt. Erst im ominösen Initiationsritual im «Tempel», sozusagen dem innersten Heiligtum des Logengebäudes, wird ihnen die Augenbinde abgenommen und sie bekommen die Räume sowie die übrigen Logenmitglieder erstmals zu Gesicht. Wenn einem Neumitglied so im hellerleuchteten Tempel «das Licht gegeben werde», sei das «ein einzigartiges Erlebnis, das einem ein Leben lang in Erinnerung bleibe», schreibt die Grossloge Alpina dazu auf ihrer Webseite.
Für die Freimaurerei in irgendeiner Form Reklame zu machen, gilt bei den Logen als verpönt, in ihren Webauftritten scheinen sie sich jedoch munter plaudernd profilieren zu dürfen. Das Netz ist voll von Informationen über freimaurerische Symbole, Rituale, Logen, Grosslogen sowie tief- und hochgradige Hierarchien. Einige Fragezeichen rund um die Freimaurerei dürfen inzwischen als gelüftet gelten, aber einen Freimaurertempel von innen gesehen, haben wohl die wenigsten.
Der Meister im Prunksaal
Annina Hess, Präsidentin des Vereins St. Peter, spricht in ihrer Begrüssung von einer «geheimnisumwitterten» Organisation und freut sich über das «riesige Echo», welches diese rare Veranstaltung ausgelöst habe. Sie versteht sich als Netzwerkerin; der «Gwunder», was sich im Quartier tue, sei der Antreiber, um solche Begegnungsabende aufzugleisen. Als Türöffner fungierte in diesem Fall der Alttestamentler Konrad Schmid von der Uni Zürich. Er hielt bei der «Modestia» einen Vortrag über den Tempel Salomons und schlug später einen Besuch, organisiert durch den Verein St. Peter, vor. Die Loge zeigte sich einverstanden: «Wir sind trotz traditioneller Abgeschlossenheit ein lebendiger Teil des Stadtzentrums», sagt Christoph Meister.
Mit Meister steht den Teilnehmenden an diesem Abend ein ausgewiesener Freimaurerexperte Red und Antwort; er ist stellvertretender Direktor des Freimaurer Museums in Bern, von 2004 bis 2011 war er auf dem Lindenhof «Meister vom Stuhl», wie der Vorsitzende und Zeremonienmeister der Loge traditionell genannt wird. Dessen Aufgabe ist es, Impulse zu geben, damit sich die Mitglieder geistig entfalten und entwickeln können: «Das ist das Hauptziel der Freimaurer», sagt Meister. Er sitzt im ehrfurchtgebietend prunkvollen Konferenzsaal vorne in der Mitte auf einem thronartigen Sessel. Vor ihm steht eine rote Rose in einer Vase, Symbol der Schönheit und Vollendung, links und rechts wird er flankiert von zwei grossen Ölgemälden, Platon und Aristoteles, die beiden griechischen Philosophen.
Selbsterkenntnis als Ziel
Platons Blick ist in den Himmel gerichtet, in die geistige, ewige Welt der Ideen. Aristoteles' linke Hand ruht auf einem Totenkopf, die rechte schreibt: «Nosce te ipsum» ist zu lesen, «erkenne dich selbst». Aristoteles wendet sich der vergänglichen Welt der Menschen zu. Die Freimaurer seien bestrebt, beide Teile zusammenzubringen, die obere, ewige und die untere, vergängliche, repräsentiert durch ein Dreieck mit der Spitze gen oben und eines mit der Spitze nach unten. Legt man sie übereinander, entsteht ein Stern, auch er ist ein wichtiges Emblem der Freimaurer. Der Stuhl des ehemaligen Meisters Meister steht genau im Osten, da, «wo das Licht herkommt». Überhaupt ist das ganze Tempelgebäude von West nach Ost ausgerichtet.
Der Meister vom Stuhl symbolisiere das Licht, nach dem die Freimaurer streben sollen, aber nicht als Person, sondern als gewählter Träger eines Amtes. Nach vier Jahren wird er durch einen Nachfolger abgelöst und ist wieder ein Bruder wie alle andern. Die rund 80 Teilnehmenden sitzen an langen Tischreihen und lauschen Meisters erhellenden Ausführungen mucksmäuschenstill. Man merkt, der ehemalige Gymilehrer und Schulleiter an der Hohen Promenade in Zürich ist sich gewohnt, das zu Vermittelnde in packende Vorträge zu verpacken. Er sagt Sätze wie: «Alles im Leben ist geheimnisvoll, je älter ich werde, desto mehr wird mir das bewusst»; «mit dem Menschen soll im Leben etwas passieren, Werte sollen sich in ihm verkörpern, sonst ist das Leben sinnlos.»
Wertegemeinschaft ohne Glaubensbekenntnis
Der freimaurerische Wertekanon ist derselbe wie jener der Aufklärung und der französischen Revolution: Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit. Die Mitglieder sind Brüder (in Frauenlogen, ja, die gibt es: Schwestern) – sie sollen sich gegenseitig in Toleranz, Akzeptanz und Freiheit von Vorurteilen begegnen. Und das bedeutet auch zuzulassen, dass andere, das Licht in etwas anderem sehen als man selber: Allah, Naturgesetze, die Ideenwelt der Philosophie, Jesus usw. «Zu unseren Mitgliedern gehören neben Schweizern Menschen aus allen Kulturen, Muslime, Juden, gläubige Christen, aber auch viele Agnostiker», sagt Meister.
Auch wenn einige Freimaurer heute offen zu ihrer Mitgliedschaft stehen, die Mehrheit behält die Zugehörigkeit für sich, manchmal selbst vor den nächsten Angehörigen. Etwas Geheimnistümelei gehört nach wie vor dazu. Dazu schreibt die erst vor fünf Jahren gegründete, gemischtgeschlechtliche Zürcher Loge Fidelitas: «Die Freimaurerei ist, wie dies bei vielen Vereinigungen, Berufen, Stellungen in Firmen etc. der Fall ist, auf Verschwiegenheit, Vertrauen und Diskretion aufgebaut, gewissermassen ein gelebter „Datenschutz“.» Meister selber hingegen hat nie einen Hehl aus seiner Freimaurerschaft gemacht, neuen Lehrlingen, die in die Modestia eintreten, empfiehlt er sich zu bekennen.
Sinnsuche und Transformation
Nach einer etwas dürreren Phase erfreut sich «Modestia cum Libertate» in den letzten Jahren wieder regeren Zulaufs. Laut Meister stellen deutlich mehr Anwärter einen Antrag auf Aufnahme, als letztlich aufgenommen werden. Cirka drei pro Jahr seien es, zuviele neue Mitglieder will man nicht. Das Image der Exklusivität will gewahrt sein. Das Aufnahmeprozedere ist gelinde gesagt kompliziert, die Aufnahmekriterien sind etwas undurchsichtig. Wichtig ist: Der Beweggrund der Bewerber darf kein rein karrieretechnischer sein. «Dafür geht man besser zu den Rotariern oder in den Lions Club», sagt Meister. Zwar sind die Freimaurer traditionell ein sehr einflussreiches Netzwerk, dessen Fäden in die Politik und Wirtschaft hinein reicht, aber man erinnert sich: Die älteste Zürcher Loge trägt eben auch die «Modestia», die Mässigung oder Bescheidenheit, als Leitmotiv vor sich her. Bewerber müssen sich vor allem mit dem Wertekanon und der Quintessenz der Freimaurerei identifizieren können.
Meisters Ausführungen vermitteln den Eindruck: Die Freimaurer sind eine Gemeinschaft von Sinnsuchenden, die in diesem Leben das Beste aus sich machen wollen und sich dafür auf einen geistigen Pfad der Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung begeben. Dieser führt jedoch nicht über Worte oder abstrakte Theorien, als Meditationsobjekt und Wegweiser dienen den Freimaurern starke Symbole: Der Weg führt vom Dunkel ins Licht, vom Rohling des unbehauenen Steins zum geschliffenen Kubus usw. Worin das anzustrebende Licht besteht, bleibt der Interpretation des Einzelnen überlassen, wie man an sich arbeitet, sodass man zum in die Mauer passenden Stein wird, muss jeder selbst herausfinden. «Und selbst wenn er die Meisterschaft errungen hat, bleibt er dennoch der ursprüngliche Stein. Das hat mir von Anfang an eingeleuchtet», sagt Meister. Eine besonders wichtige Rolle spielen auch die sinnlichen Rituale bei den Übergängen von einer Lebensphase zur nächsten: vom Lehrling über den Gesellen zum Meister.
In der Tradition der Steinmetze
Als Symbol für diesen Transformationsprozess steht in der rechten Ecke des Konferenzsaals eine bemalte Holzfigur von Johannes dem Täufer, wie man sie gut in einer katholischen Kapelle finden könnte: «Er weist auf das Licht hin und darauf, dass die Menschen sich ändern müssen, wenn sie es empfangen wollen», sagt Meister. Auch ist Johannes der Schutzpatron der Maurer und Steinmetze; letztere, die «Freestone Masons», eigentliche Spezialisten für den Bau von Kathedralen, haben sich schon im Mittelalter zu einer Art Zunft zusammengeschlossen und ihr Wissen dort nur mündlich untereinander weitergegeben. Sie erfanden Symbole und Geheimschriften, um ihr exklusives Know-how vor fremden Augen zu schützen. Das gilt als eigentlicher Ursprung der Freimaurerei. Und die Symbole der Steinbehauer und Domerbauer wie Winkel, Zirkel und Lot verwenden die Freimaurer auch heute noch in ihren Zeremonien. In Ritualen spielt auch der «Grosse Baumeister», eine Art Schöpfergott, eine Rolle.
Zutritt zum unheiligen Heiligtum
Das Geheimnis, wo diese Rituale stattfinden, wird im zweiten Teil der Führung, gelüftet. Meister führt die Besucherinnen und Besucher mehrere Stockwerke hinab durch ein Treppenhaus, das mit all seinen Vitrinen und Schaukästen einem Museum gleicht. Degen, Gehstöcke mit Totenköpfen, wertvolle Artefakte und kunstvolle Objekte aus der 251-jährigen Geschichte von «Modestia cum Libertate». Dann darf das Publikum von Westen her, der dunklen Seite, den eigentlichen Tempel betreten: Im Innern dominieren Blau-, Gold- und Brauntöne, man nimmt auf Holzsitzen Platz unter einem blauen Dach mit goldenen Sternen und staunt. Im Osten zeigen Glasfenster links den Mond, rechts die Sonne, dazwischen der Schriftzug Justitia (Gerechtigkeit).
Der Tempel ist dem biblischen Tempel Salomons nachempfunden und der wurde bekanntlich dreimal zerstört. «Die Freimaurer haben etwas Freches gemacht», sagt Meister, «sie haben den Wohnsitz Gottes entsakralisiert und neu erbaut zum Tempel der Humanität gemacht». Das salomonische Gotteshaus stünde hier nur als ein Symbol, als ein Wahrzeichen der Menschheit und Humanität. Von hier aus solle das Licht der Menschlichkeit in die Welt ausstrahlen. Ganz offen beantwortet Meister Fragen zu den hier zelebrierten Ritualen und erklärt die Symbole im Raum. Die drei Säulen in der Mitte etwa stünden für die freimaurerische Suche nach Weisheit, Stärke und Schönheit, die zusammen das Gelingen eines grossen Werkes verkörperten. Allerdings steht ein Gebäude nur auf vier Säulen gut und so habe auch die abwesende vierte Stütze ihre tiefere Bedeutung: Sie steht für das Geheimnis, die mystische Komponente.
Zum Abschluss begibt sich die ganze Gesellschaft durch den Regen ins Lavaterhaus zu Olivenzopf und Wein und vielen Fragen, die Christoph Meister und ein weiterer Meister der Freimaurerei bereitwillig beantworten. Von Geheimniskrämerei keine Spur. Als sich die letzten Gäste zufrieden verabschiedet haben, findet die Organisatorin des Anlasses Zeit, ihre Eindrücke zu schildern. «Ich denke, die Freimaurer stellen sich ähnliche existenzielle Fragen wie die reformierte Kirche», sagt Annina Hess, Präsidentin des Vereins St. Peter. «Sie machen auch nichts anderes, als zu versuchen, Menschen eine spirituelle Heimat zu bieten.» Beispielsweise sei Toleranz doch ein universelles Gut und urmenschliches Thema. Auch verspüre sie grossen Respekt vor dieser symbolisch durchgestalteten Welt im Innern der Loge, die nichts Zufälliges habe. Sie möge sakrale Räume sehr und der Tempel der Loge sei irgendwie gleichzeitig sakral und doch nicht. «Ich persönlich fühle mich jetzt in einer banalen Kirche willkommener geheissen.»
Christian Kaiser, reformiert.info
Zu Besuch im Tempel Salomons