Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri, Zug

«Zwingli hatte den Mut, alte Zöpfe abzuschneiden»

min
22.02.2016
Christoph Sigrist (52) ist Botschafter des Zürcher Reformationsjubiläums und predigt am Grossmünster, der Wirkstätte des Reformators Huldrych Zwingli. Er ist überzeugt: Zwingli ist auch 500 Jahre nach der Reformation hochaktuell. Das Reformationsjubiläum 2019 bietet der Kirche Gelegenheit, sich auf den Reformator zurückzubesinnen.

In der Stadt Zürich sind die Reformierten heute eine Minderheit. Gibt es trotzdem Grund zum Feiern?
Ja, sicher. Die Kirche ist ein wichtiger Pfeiler der Gesellschaft und leistet wertvolle Dienste. In einer individualisierten Gesellschaft tut man sich mit Institutionen schwer. Die Leute wollen heute keinen verordneten Glauben mehr, aber viele sind auf der Suche nach Spiritualität und nach religiösem Empfinden. Das Grossmünster in Zürich wird täglich von bis zu 3000 Personen besucht. Darunter sind auch Orthodoxe, Juden, Buddhisten und Muslime, für die die Kirche ein einladender Sakralraum ist. Die Kirche als heiliger Ort ist nach wie vor ein magischer Anziehungspunkt. Das ist ein Grund zu feiern.

Ausgerecht der sinnesfeindliche Zwingli soll 2019 gefeiert werden?
Das stimmt überhaupt nicht und ist ein Klischee, das sich hartnäckig hält. Zwingli war ein sehr lustvoller Mensch. In Einsiedeln hatte er als Pfarrer ein Verhältnis mit der Tochter des Coiffeurs. Wie er vor seiner Wahl ans Grossmünster beichtete, sei es damals «über ihn gekommen». Später in Zürich verliebte er sich dann in Anna Reinhard, die Tochter des «Rössli»-Wirts, die er später heiratete.

Was steht für Sie bei den Feierlichkeiten 2019 im Vordergrund?
Dass wir uns 500 Jahre nach der Reformation auf den Geist Zwinglis besinnen. Zwingli hatte den Mut, alte Zöpfe abzuschneiden. Das müssen wir heute auch. Reformiert sein bedeutet auch, neue Formen des Glaubens zu ermöglichen, innovativ und nachhaltig zu sein. Die Welt wandelt sich. Wir müssen darauf reagieren als Reformierte. Die Feierlichkeiten bieten Gelegenheit, daran zu erinnern, wofür die reformierte Kirche steht: Menschlichkeit und praktizierte Nächstenliebe. Damit die Botschaft ankommt, müssen wir sie so vermitteln, dass sie von den Menschen verstanden wird. Als Reformationsbotschafter will ich die Begeisterung für die Reformation wecken, die auch einen Wendepunkt der Geschichte darstellte und weitreichende gesellschaftspolitische Auswirkungen hatte. Die Reformation legte zum Beispiel auch die Grundlage für unseren heutigen Sozialstaat.

Was bedeutet Ihnen die Leistung des Zürcher Reformators Zwingli?
Er war nicht nur ein grandioser Theologe, sondern auch ein Politiker und Diplomat. Zwingli wusste, dass er die Zürcher Kirche nur erneuern konnte, wenn es ihm gelingt, die Mehrheit der Menschen hinter sich bringen. Zu Gute kam ihm dabei, dass er sich nicht in Details verlor, sondern die Dinge in fünf Worten auf den Punkt bringen konnte – auch in seinen Predigten.

Wie brachte er die Leute für die Reformation hinter sich?
Er stellte nicht gleich alles auf den Kopf. Als Sohn eines Gemeindeammans aus Wildhaus hatte er Vertrauen in die Instrumente der Staates und der Gesellschaft. Als ihm die Zürcher Obrigkeit sagte, er habe mit der Erneuerung der Kirche zwar recht, die Zürcher seien dafür aber noch nicht reif, führte er die Messe eineinhalb Jahre nach altem Ritus weiter. Dann gab ihm die Obrigkeit grünes Licht für die Reformation. Diese war – im Unterschied zu Luther – eine städtische Reformation der Obrigkeit. Als Theologe war Zwingli bewusst, dass die Instrumente der Reformation die Obrigkeit, der Staat und die Gesellschaft sind.

Heute gibt es Stimmen, die sagen, die Kirche soll sich nicht in die Politik einmischen. Was hätte Zwingli dazu gesagt?
Das hätte er sich nicht gefallen lassen. Für ihn war das Evangelium öffentlich, die Kirche deshalb auch politisch. Der Glaube des einzelnen Bürgers war für ihn nicht Privatsache, sondern hatte öffentliche Relevanz. Für ihn als sozial-liberalen Theologen beinhaltete der Glaube auch Verantwortung für die Schwächsten der Gesellschaft. Das zeigte sich in der ersten Armenverordnung, die er am 15. Januar 1525 in Kraft setzte. Zwingli wartete nicht auf den Sozialismus, sondern setzte seine eigene Sozialordnung um.

Zwingli verbot einst das Betteln. Wäre er heute Mitglied der SVP?
Ich denke nicht. Die SVP geht oft andere Wege, welche mit dem christlich-reformierten Denken nicht immer einhergehen. Bettler waren vor der Reformation Bittsteller und Abhängige, die von der Kirche für ihre Zwecke benutzt wurden. Der Schutz und die Freiheit des Menschen hatten für Zwingli einen ganz grossen Stellenwert. Er unterschied zwischen echten und unechten Armen. Erstere wurden unterstützt, Letztere waren die faulen Müssiggänger, die in Arbeitsprogramme kamen.

Würde Zwingli syrische Flüchtlinge aufnehmen?
Damals gab es keine Flüchtlinge anderer Religionen in der Schweiz. Zwingli kannte diese Situation also nicht. Aber für ihn war sonnenklar, dass man diejenigen, die in Not sind, aufnimmt. In der Helferei des Grossmünsters hat Bullinger, der Nachfolger Zwinglis, reformierte Flüchtlinge aus Lugano aufgenommen. Auch heute engagieren wir uns dort diesbezüglich.

Zwingli war ein Bergler. Was hat er aus dem Toggenburg nach Zürich gebracht?
Sein Feeling für die Genossenschaftskultur, mit dem er der Reformation zum Durchbruch verhalf. Wenn man auf den Selun hinaufgeht, dann sieht man heute noch, was ihn geprägt hat: Die demokratische Zusammenarbeit, wie man sie in den Alpgenossenschaften seit jeher lebt. Dann hat ihn auch die Toggenburger Musikkultur geprägt. Zwingli war ja sehr musikalisch, komponierte und spielte Hackbrett sowie weitere Instrumente. Sein berühmtes Lied «Herr, nun selbst den Wagen halt!» ist heute noch im Kirchengesangbuch. Wir verdanken der Alpsteinkultur viel. Deshalb sollten wir ihr auch die Wertschätzung entgegenbringen, die sie verdient.

Sie waren selbst Pfarrer in Stein im Toggenburg. Spürt man den Geist Zwinglis dort auch heute noch?
Ja. Im Toggenburg macht man keine grossen Worte über den Glauben. Man hat ein Urvertrauen in Gott und ist zuversichtlich, dass alles gut wird. Dieses Vertrauen hat Zwingli auch in seinem Pestlied thematisiert.

Gibt es eine Eigenschaft Zwinglis, die Sie gerne haben würden?
Ich schätze seine demütige und musikalische Seite. Mit Weggefährten arbeitete er sechs Jahre lang an der Bibelübersetzung. In der Vorrede allerdings erwähnte er sich selbst nicht. Er wusste, dass es andere vielleicht noch besser machen könnten.

Christoph Sigrist
Seit 2003 ist Christoph Sigrist Pfarrer am Grossmünster in Zürich. Weiter ist er Privatdozent für Diakoniewissenschaft an der theologischen Fakultät der Universität Bern. Von 1990–2014 war er Armeeseelsorger in der Schweizer Armee.

Buchtipps:
«Ulrich Zwingli – Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus», Peter Opitz, Theologischer Verlag Zürich, 2015, CHF 22.80
«Ulrich Zwingli: Wie der Schweizer Bauernsohn zum Reformator wurde», Ulrike Strerath-Bolz, Wichern-Verlag, 2013, CHF 16.80

Interview: Philippe Welti / Kirchenbote / 14. Januar 2016
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Unsere Empfehlungen